Mittwochnachmittag

Der erste Tag des zweiten Corona „Shutdowns“ und ich stehe allein auf weiter Flur. Oder auch nicht, denn ich stehe mitten in der Großstadt, nur fühlt sich die so an wie weite Flur. Alles geschlossen und kaum eine Menschenseele zu sehen. Ich krame tief in meinem Gedächtnis, das Gefühl, das sich in mir breitmacht, kenne ich irgendwoher? Sicherlich vom Frühsommer dieses Jahres, von dem ich mich nicht entscheiden kann, ob es ein merkwürdiges oder denkwürdiges ist.

Im ersten Shutdown sah es hier ähnlich aus, aber meine Erinnerung stammt nicht dorther, sie ist viel älter und tiefer vergraben. Ich wühle in den alten Gedanken aber immer, wenn ich eine kleine Ecke der Erinnerung erwische, huscht sie weg und wirbelt dabei so viel Staub auf, dass mein Gehirn niesen müsste, wenn es das denn könnte. Niesen ist sowieso schlecht heutzutage, wenn überhaupt dann in die Armbeuge und das kann ein Gehirn schon gar nicht. Also benutze ich den ältesten Trick, um einen verlorenen Gedanken einzufangen: An etwas anderes denken. Wenn er sich unbeobachtet und sicher fühlt, dann kommt er von selbst wieder. Gedanken sind, so folgere ich, neugierige Gesellen, sonst würden sie das nicht tun. Also ist Neugier und Denken das Gleiche?

Ich merke, dass meine eigenen Gedanken abgeschweift sind, „das war der Plan“ denke ich und drehe mich (natürlich nur im Kopf) ganz schnell um: „Woher kam nochmal das Gefühl, das mich an die leere Großstadt erinnert?“, frage ich die Ecke meines Gehirns, die für interne Altertumsforschung zuständig ist. Immer noch kommt als Antwort nur ein Behördenbrief zurück, viele Andeutungen, keine Lösung und am Ende der Satz: „Wir glauben fest daran die Antwort zu kennen und werden die Suche danach mit großer Vehemenz vorantreiben!“ Langsam werde ich sauer, vielleicht ordne ich demnächst einen Shutdown für Gehirne an, was würde passieren? Wahrscheinlich nur, dass der Bundesgerichtshof die Maßnahme als unverhältnismäßig einstuft, weil sie großen Teilen der Bevölkerung keinen nennenswerten Effekt bewirkt.

Zu meiner Erinnerung würde mich das auch nicht führen, also verwerfe ich die Idee, wende mich mental wieder ab und versuche mehr Abstand zu gewinnen. Zu viel Abstand darf es aber auch nicht sein, sonst kommt die Erinnerung aus ihrem Versteck, du siehst sie gerade nicht und sie verschwindet in ein neues Loch. Dann geht das Spiel von vorne los, nur dass jetzt eine Schicht mehr darüber liegt. Es ist wie bei den russischen Matrjoschka-Puppen, beim nächsten Mal ist eine Puppe mehr darüber gestülpt. Das Erinnern erfordert Muße, sonst entstehen große Holzpuppen mit wenig Inhalt.

Meine Rettung erscheint in Form einer Fußgängerampel. So ausgestorben wie die Neusser Straße auch ist, Autos fahren darauf so viele wie sonst auch. Ich habe zwar keine Ahnung wo die Menschen in den Autos herkommen und erst recht keine Ahnung davon wo sie hinwollen, aber wenn alle systemrelevant sind, dann kann es an Krankenschwestern und -pflegern nicht mangeln. Jedenfalls erfordert das Überqueren der Straße meine volle Aufmerksamkeit. Ich bin voll darauf konzentriert, ob das grüne Männchen welches die Blechhorde im Zaum hält auch wirklich solange grün bleibt, bis ich ihr Revier auf der anderen Seite der Straße wieder verlassen kann.

Die volle Konzentration auf das grüne Männchen ist der Köder, dem die Erinnerung nicht widerstehen kann. Genau in der Straßenmitte kommt sie heraus, meine Falle schnappt zu und ich bleibe vom Geistesblitz getroffen stehen. Die Matrjoschka-Puppen! Sie waren früher jedes Jahr in dem Paket, das uns die Verwandtschaft aus der Zone so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk kurz vor Weihnachten schickte. Zusammen mit dem Christstollen und der Schallplatte vom Weihnachtsoratorium mit dem Dresdner Kreuzchor. Der Stollen war spätestens im März aufgegessen, die Platten und die Puppen sammelten sich im Schrank.

Die russisch anmutenden Holzpuppen führen meine Gedanken zurück in das kleine Dorf meiner Kindheit, in dem Moment wo das Dorf besonders still war. Sicherlich, solche Dörfer sind immer still, das ist ihr Wesen. Aber in manchen Augenblicken sind sie besonders still und verlassen, oder waren es zumindest in den Siebzigern. Damals besaß ein solches Dorf noch Läden und Geschäfte und genau diese waren mit großer Zuverlässigkeit an jedem Mittwochnachmittag geschlossen. Das war sie, die Stimmung, die mich aus der Vergangenheit eingeholt hatte: alles dicht, keine Menschen weit und breit und nichts zu tun.

Es ist eine wunderbare Erinnerung, genau die richtige Mischung aus bitter und süß. Bitter, weil ich immer genau am Mittwochnachmittag etwas brauchte: Eis, Sammelbilder oder ein neues Buch aus der Bücherei. Doch egal wie viel Taschengeld in meiner Hosentasche brannte, es war zu nichts nütze. Aber auch süß, weil der wiederkehrende Shutdown am Mittwochnachmittag auch Freiheit gab. Freiheit für neue Ideen: Baumhäuser, Frösche, Wasser und Wald; alles geöffnet. Sicherlich kamen wir auch auf schlechte Ideen, wenn ich ganz ehrlich nachzähle, waren das vermutlich die meisten, manche davon wirklich schlecht. Aber immerhin waren die Ideen neu und es waren auch gute darunter.

Was ich mir merke: Ein Shutdown kann mir nichts anhaben, das habe ich früh genug trainiert. Und weniger Möglichkeiten fördern das Neue. Ich lege die entstaubte Erinnerung vorsichtig wieder zurück und wende mich wieder der Gegenwart zu. Immer noch stehe ich mitten auf der Neusser Straße, das Ampelmännchen strahlt allerdings derweil in leuchtendem Rot und mein Schienbein steht direkt vor der Stoßstange eines Autos. Dessen Fahrer hat offensichtlich geduldig darauf gewartet, dass ich mich zu Ende erinnere. Stimmt, einfach mal etwas langsamer sein schadet auch nicht. Wir lächeln uns kurz zu und ich räume für ihn die Straße. Heute ist übrigens Mittwoch.