Mittwochnachmittag

Der erste Tag des zweiten Corona „Shutdowns“ und ich stehe allein auf weiter Flur. Oder auch nicht, denn ich stehe mitten in der Großstadt, nur fühlt sich die so an wie weite Flur. Alles geschlossen und kaum eine Menschenseele zu sehen. Ich krame tief in meinem Gedächtnis, das Gefühl, das sich in mir breitmacht, kenne ich irgendwoher? Sicherlich vom Frühsommer dieses Jahres, von dem ich mich nicht entscheiden kann, ob es ein merkwürdiges oder denkwürdiges ist.

Im ersten Shutdown sah es hier ähnlich aus, aber meine Erinnerung stammt nicht dorther, sie ist viel älter und tiefer vergraben. Ich wühle in den alten Gedanken aber immer, wenn ich eine kleine Ecke der Erinnerung erwische, huscht sie weg und wirbelt dabei so viel Staub auf, dass mein Gehirn niesen müsste, wenn es das denn könnte. Niesen ist sowieso schlecht heutzutage, wenn überhaupt dann in die Armbeuge und das kann ein Gehirn schon gar nicht. Also benutze ich den ältesten Trick, um einen verlorenen Gedanken einzufangen: An etwas anderes denken. Wenn er sich unbeobachtet und sicher fühlt, dann kommt er von selbst wieder. Gedanken sind, so folgere ich, neugierige Gesellen, sonst würden sie das nicht tun. Also ist Neugier und Denken das Gleiche?

Ich merke, dass meine eigenen Gedanken abgeschweift sind, „das war der Plan“ denke ich und drehe mich (natürlich nur im Kopf) ganz schnell um: „Woher kam nochmal das Gefühl, das mich an die leere Großstadt erinnert?“, frage ich die Ecke meines Gehirns, die für interne Altertumsforschung zuständig ist. Immer noch kommt als Antwort nur ein Behördenbrief zurück, viele Andeutungen, keine Lösung und am Ende der Satz: „Wir glauben fest daran die Antwort zu kennen und werden die Suche danach mit großer Vehemenz vorantreiben!“ Langsam werde ich sauer, vielleicht ordne ich demnächst einen Shutdown für Gehirne an, was würde passieren? Wahrscheinlich nur, dass der Bundesgerichtshof die Maßnahme als unverhältnismäßig einstuft, weil sie großen Teilen der Bevölkerung keinen nennenswerten Effekt bewirkt.

Zu meiner Erinnerung würde mich das auch nicht führen, also verwerfe ich die Idee, wende mich mental wieder ab und versuche mehr Abstand zu gewinnen. Zu viel Abstand darf es aber auch nicht sein, sonst kommt die Erinnerung aus ihrem Versteck, du siehst sie gerade nicht und sie verschwindet in ein neues Loch. Dann geht das Spiel von vorne los, nur dass jetzt eine Schicht mehr darüber liegt. Es ist wie bei den russischen Matrjoschka-Puppen, beim nächsten Mal ist eine Puppe mehr darüber gestülpt. Das Erinnern erfordert Muße, sonst entstehen große Holzpuppen mit wenig Inhalt.

Meine Rettung erscheint in Form einer Fußgängerampel. So ausgestorben wie die Neusser Straße auch ist, Autos fahren darauf so viele wie sonst auch. Ich habe zwar keine Ahnung wo die Menschen in den Autos herkommen und erst recht keine Ahnung davon wo sie hinwollen, aber wenn alle systemrelevant sind, dann kann es an Krankenschwestern und -pflegern nicht mangeln. Jedenfalls erfordert das Überqueren der Straße meine volle Aufmerksamkeit. Ich bin voll darauf konzentriert, ob das grüne Männchen welches die Blechhorde im Zaum hält auch wirklich solange grün bleibt, bis ich ihr Revier auf der anderen Seite der Straße wieder verlassen kann.

Die volle Konzentration auf das grüne Männchen ist der Köder, dem die Erinnerung nicht widerstehen kann. Genau in der Straßenmitte kommt sie heraus, meine Falle schnappt zu und ich bleibe vom Geistesblitz getroffen stehen. Die Matrjoschka-Puppen! Sie waren früher jedes Jahr in dem Paket, das uns die Verwandtschaft aus der Zone so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk kurz vor Weihnachten schickte. Zusammen mit dem Christstollen und der Schallplatte vom Weihnachtsoratorium mit dem Dresdner Kreuzchor. Der Stollen war spätestens im März aufgegessen, die Platten und die Puppen sammelten sich im Schrank.

Die russisch anmutenden Holzpuppen führen meine Gedanken zurück in das kleine Dorf meiner Kindheit, in dem Moment wo das Dorf besonders still war. Sicherlich, solche Dörfer sind immer still, das ist ihr Wesen. Aber in manchen Augenblicken sind sie besonders still und verlassen, oder waren es zumindest in den Siebzigern. Damals besaß ein solches Dorf noch Läden und Geschäfte und genau diese waren mit großer Zuverlässigkeit an jedem Mittwochnachmittag geschlossen. Das war sie, die Stimmung, die mich aus der Vergangenheit eingeholt hatte: alles dicht, keine Menschen weit und breit und nichts zu tun.

Es ist eine wunderbare Erinnerung, genau die richtige Mischung aus bitter und süß. Bitter, weil ich immer genau am Mittwochnachmittag etwas brauchte: Eis, Sammelbilder oder ein neues Buch aus der Bücherei. Doch egal wie viel Taschengeld in meiner Hosentasche brannte, es war zu nichts nütze. Aber auch süß, weil der wiederkehrende Shutdown am Mittwochnachmittag auch Freiheit gab. Freiheit für neue Ideen: Baumhäuser, Frösche, Wasser und Wald; alles geöffnet. Sicherlich kamen wir auch auf schlechte Ideen, wenn ich ganz ehrlich nachzähle, waren das vermutlich die meisten, manche davon wirklich schlecht. Aber immerhin waren die Ideen neu und es waren auch gute darunter.

Was ich mir merke: Ein Shutdown kann mir nichts anhaben, das habe ich früh genug trainiert. Und weniger Möglichkeiten fördern das Neue. Ich lege die entstaubte Erinnerung vorsichtig wieder zurück und wende mich wieder der Gegenwart zu. Immer noch stehe ich mitten auf der Neusser Straße, das Ampelmännchen strahlt allerdings derweil in leuchtendem Rot und mein Schienbein steht direkt vor der Stoßstange eines Autos. Dessen Fahrer hat offensichtlich geduldig darauf gewartet, dass ich mich zu Ende erinnere. Stimmt, einfach mal etwas langsamer sein schadet auch nicht. Wir lächeln uns kurz zu und ich räume für ihn die Straße. Heute ist übrigens Mittwoch.

Auf dem Wochenmarkt in Coronia

Heute ist alles anders. Fast alles. Der Fischhändler ist gut gelaunt wie immer, aber die berühmte Schlange vor seinem Stand ist nicht mehr zu erkennen. An normalen Tagen steht sie immer vor seinem Stand, diese Schlange in Form einer Traube. Aber Menschentrauben, das hat inzwischen auch fast jeder Kölner verstanden, sind gerade nicht angesagt. Der Fischhändler hat vorgesorgt und vor seinem Wagen Herzen aus Kreide aufgemalt, im Abstand von zwei Metern. Damit hat er den üblichen Pulk in eine Reihe seziert, die von Lücken dominiert ist. Mein Herz schlägt vor Freude einmal zusätzlich, so lassen sich die Menschen viel leichter zählen.
Die Neuankommenden sondieren die Lage, ihr Blick fällt vom Fischstand zu den stehenden Menschen, erkennen die Kreideherzen und langsam auch das Prinzip. Sorgsam auf Abstand bedacht bewegen sich die Kunden in Richtung des Schlangenendes, über die Straße hinweg und bis in die dahinterliegende Allee. Zwischendurch steckt auch der Fischverkäufer den Kopf heraus und lobt die Wartenden: „Immer Abstand halten, ihr macht das prima“. Dabei fällt ihm auf, dass er zu wenig Herzen gemalt hat und er ermuntert zwei Kinder ihm neue zu malen. Einen Sahnehering als Belohnung lehnen die beiden ab, nicht alles ändert sich. Ob sie denn ein Stück Käse nehmen würden? Passt für die Kleinen, er schreit die Bestellung zur Käsehändlerin hinüber, die bestätigt, gibt es. Aber erst gleich, wenn der Stand frei ist und verpackt; wegen der Hygiene.
Der größte Vorteil der Schlangen mit zwei Metern Mindestabstand: Man verpasst keine Unterhaltung mehr. Etwa in der Mitte der Fischschlange steht eine junge Frau mit einer großen Packung Toilettenpapier, eifrig darum bemüht das was völlig normal ist auch jetzt normal aussehen zu lassen. Sie macht das recht gut, es kann aber hier im Rheinland nicht funktionieren. Von hinten kommen die ersten Kommentare: „Lasst die Frau mit dem Klopapier vor, die hat Not“. Ihre Reaktion dann prächtig offensiv: „Ihr könnt vor, ICH habe das Wichtigste schon!“.
Dann wird es ernst, als ein älterer Mann – knapp sechzig – sie fragt, wo denn das Papier her sei und ob es da noch was gäbe? Nein lautet die Antwort, erst am Nachmittag rechne der Aldi mit Nachschub. Die glückliche Papierbesitzerin ist aber gerne bereit zu teilen. Das wiederum hält der Alte nicht für nötig, er hätte noch sechs Rollen zu Hause, nächste Woche vielleicht. Daraus ergibt sich die Frage an die Schlange: „Wer braucht noch was?“. Vor meinem geistigen Auge fliegen schon die Rollen durch die Luft, zwei Meter Abstand sind oberstes Gebot, auch und gerade beim Klopapier. Aber alle winken ab und geben kurz den Bestand durch: „vier Pakete für zwei Personen“, „acht Pakete, aber nur zweilagig“, „genug solange keiner Dünnschiss hat“, „was soll der Quatsch, ich will Fisch“. Anscheinend ist der Bedarf gedeckt.
Derweil stehe ich in der Käseschlange. Die Käsehändlerin hat keine Kreideherzen, dafür – wie immer – eine deutliche Ansprache und ein hartes Regiment. Funktioniert auch, ihre Schlange ist nicht so lustig aber ebenso abständig. Jeder nach seinen Fähigkeiten. Als ich drankomme, liegen die Käsestücke in der Auslage fast so weit auseinander wie die Menschen stehen. Die Händler können sich keine große Vorratshaltung leisten. Trotzdem gibt es noch fast alles, selbst Handkäs mit Musik – in schwierigen Zeiten denkt jeder an die Heimat – gibt es noch. Gerade noch, die Käsehüterin packt mir die beiden letzten Stücke ein. Bereits im Weggehen höre ich die nächste Kundin dann ebenfalls nach Handkäse fragen. Negative Antwort von der Käsefrau, der junge Mann – sie meinte mich- hätte die letzten Stücke gekauft. Ich halte ein, wenn andere Toilettenpapier abgeben, kann ich ja wohl auch Handkäse teilen. Insbesondere weil die Kundin jetzt erklärt, dass sie den Handkäse für den Josef kaufen sollte, der dürfte ja jetzt nicht raus wegen seines Asthmas. Das ändert aber die Lage, denn der Handkäse für Josef liegt bereits abgepackt unter dem Tresen, wie jeden Freitag. Alles wird gut.
Meine Wochenendeinkäufe sind getätigt. Auch ich habe mehr gekauft als sonst, zehn anstatt sechs Eier, ein ganzes statt einem halben Brot. Schwer beladen laufe ich zu meinem Fahrrad, doch zwischen mir und dem geparkten Drahtesel liegt ein Problem: Die Fischschlange. Genau vor dem Rad haben die Kinder ein Draufstehherz gemalt. Mein Blick wandert zwischen dem Wartenden und dem Fahrrad hin und her. Der Mann auf dem Kreideherz erkennt meine Not – irgendwie nehmen wir uns als Menschen besser wahr, seitdem wir Abstand wahren. Aber das ist nur einer der vielen Widersprüche, die ich im Moment mit Überraschung lerne.
Jedenfalls erkennt er meine Not und bewegt sich ganz langsam nach hinten, und alle Nachstehenden tun das Gleiche. Polonaise rückwärts, ohne Anfassen, etwas ganz Neues, aber das Grundmuster kennt hier in Köln ein jeder. Für mich entsteht ein mindestens zwei Meter breiter Korridor zum Fahrrad, alles prima, ich kann ausparken. Für einen Moment überlege ich, die Schlange noch etwas tanzen zu lassen, indem ich noch einige Male ein- und dann wieder ausparke. Aber wirklich nur für einen Moment und nur für mich. Kopfkino ist das Gebot der Stunde und immer schön.

 

Anmerkung (bevor jemand Fake News generiert): Dies ist ein literarischer Blog, sprich nicht alles was beschrieben wird hat sich auch genau so, an diesem Ort und zu dieser Zeit abgespielt. Fest steht aber: Kunden und Betreiber haben sich auf diesem Markt vorbildlich verhalten, weiter so!)  

Die pedantische Packliste

Auch ein guter Kunde ist dem Verkäufer nicht immer gute Kunde. „Das ist doch nicht durchdacht, die Stirnlampe benötigt drei Batterien, kaufen muss ich die im Viererpack und dann bleibt eine übrig!“ Der Verkäufer bleibt erstaunlich gelassen und fährt einfach fort die Vorzüge des Produkts für die Anwendung im Himalaya zu beschreiben: gutes Licht, zuverlässig, geringer Stromverbrauch und auch bei niedrigen Temperaturen und mit Handschuhen leicht zu bedienen. „Aber das Gehäuse ist aus Plastik, wenn es zu nah an die Flamme des Kochers kommt, haben sie nicht etwas aus Metall, das aber genauso leicht ist?“ Der Verkäufer blickt hilfesuchend in die Runde und seine rollenden Pupillen treffen auf meine. Außer einem mitleidigen Blick kann ich ihm aber keine Hilfe schenken.

Wir stehen im größten Outdoorladen Kölns und der Kunde, ein Endvierziger vom Typ notorischer Pedant, ist offenbar gewillt Geld auszugeben. Er sammelt die komplette Ausrüstung für seine Expedition nach Nepal, von der Wandersocke bis zum Eispickel. Die Packliste in seiner Hand verrät mir: er wird sich an das Luxustrekking rund um die Annapurna wagen. Lodgeübernachtung mit Wärmflasche und Rundum-Sorglos Betreuung von Hauser inklusive, quasi Mercedes S-Klasse mit eingebauter Vorfahrt. Für einen kurzen Moment bin ich verwirrt, denn der Papierstapel in seiner Hand ist mindestens zweihundert Seiten dick, doch dann verstehe ich: drei Seiten für die eigentliche Liste und der Rest für Produktbesprechungen aus dem Internet, von seiner Sekretärin fein säuberlich gedruckt und sortiert. Der Mann besitzt mit Abstand mehr Geld als gesunden Menschenverstand.

So verwundert es mich nicht, dass alle Verkäufer vor seinem suchenden Blick hinter dem nächstgelegenen Berg aus Daunenjacken verschwinden und dort ungemein beschäftigt sind. Schlagartig wird mir klar, warum es selten großgewachsene Verkäufer gibt. Allein mein Kopf ragt hinter den Jacken hervor, und so geschieht das Unvermeidliche: „Hier ist gerade keiner! Die haben aber sowieso wenig Ahnung, können sie mir helfen?“ Es macht wenig Sinn ihm zu erklären, warum ihm nicht mehr zu helfen ist.

In seinen Händen baumeln zwei Regenjacken, eine in dezentem Blau, die andere in Baustellengelb; beide mit einem Preisschild das eher zu einem Gebrauchtwagen passt. „Soll ich die mit der dreifachen Membran nehmen oder die mit der den doppelt verdichteten Reisverschlüssen aus Titan, die eine funktioniert nicht, wenn es kalt regnet, die andere versagt in feuchter Wärme?“ Immer positiv denken, schießt mir durch den Kopf, eine Kernkompetenz des Buddhismus. Entsprechend fällt meine Antwort aus: „Ich würde die Gelbe empfehlen, dann findet Dich auch der Rettungshubschrauber.“ Hektisch blättert der angehende Extrembergsteiger durch seine Zettel und findet darin auch die Lösung: „Dafür habe ich Leuchtstäbe, eine reflektierende Kältedecke, ein Satellitentelefon und ultraleichte Nebelkerzen im Gepäck. Die Nebelkerzen waren optional, aber mein Sherpa wird zwanzig Kilo für mich tragen, da ist noch ein gutes Kilo Platz“. Dieser Typ startet auch sein Auto erst, wenn das zulässige Gesamtgewicht erreicht ist. Mögen die Berge und der Buddhismus ihm etwas Gelassenheit schenken und sein Sherpa in der Nähe sein falls ihm doch etwas zustoßen sollte.

An der Kasse treffe ich ihn dann wieder, der Gesamtschaden übersteigt noch den Preis der S-Klasse Reise mit Hauser, aber er verhandelt um jeden Pfennig Rabatt. „Und sie führen wirklich keine Batterien im Dreierpack? Das müssten sie doch anbieten, wenn ihre Lampen drei Batterien brauchen?“ Linda, die Kassiererin kann nicht fliehen, stopft die ganze Ausrüstung schleunigst in gigantische orange Plastiktüten und ignoriert die Frage. „Haben sie noch ein paar Stifte für mich? Sie wissen schon, als Geschenk für die Kinder am Weg, Süßigkeiten sind ja schlecht für die Zähne und wie sagt man so schön: wer schreibt, der bleibt“. Mit einem gequälten Lächeln und letzter Anstrengung schiebt Linda noch eine Handvoll Kugelschreiber in eine der Tüten. „Funktionieren die auch in großer Höhe? Ich gehe doch zum Bergsteigen in das Himalaya.“ Linda ist zu keiner Antwort mehr fähig.

Beladen mit seiner reichen Beute und verfolgt von erleichterten Blicken der Verkäufer marschiert unser Freund in Richtung Ausgang. Dabei stößt er mit Chandra zusammen, einem Verkäufer der in der Tat aus Nepal stammt und der die warnenden Handzeichen seiner Kollegen offensichtlich als Hilferuf gedeutet hat. „Herr Sherpa, gut dass ich sie treffe!“ Immerhin, die erste Begegnung mit einem Nepali führt auch gleich zur ersten positiven Aussage, das scheint auf einem guten Weg. Ob die Freude gegenseitig ist bleibt offen, denn Chandra versteckt seine Emotionen hinter dem asiatischen Pokerface, einem breiten Lächeln und sagt nur „Thik chha“. Das heißt „alles in Ordnung“ und bedeutet es auch, wenn es denn nicht genau das Gegenteil meint.

Der Einkauf fällt zu Boden und unser Pedant breitet seine Beute vor dem immer noch lächelnden Chandra aus. Eispickel, Signalraketen, GPS-Gerät, Schlafsack, Trillerpfeife und die ganze restliche Packliste inkarnieren aus den Tüten. Dann schaut er erwartungsvoll zu Chandra: „Meine Frage an sie als den Experten: Habe ich alles, was nötig ist?“
„Schön, dass sie mein Land besuchen wollen, und danke, dass sie mich um Rat bitten. Aus meiner Sicht: Das sind alles schöne Dinge die sie gekauft haben. Sehr schöne Dinge. Aber wirklich nötig ist nichts davon, … eine Sonnencreme würde ich allerdings empfehlen“

Aschermittwoch

Spätestens der Aschermittwoch spült die melancholischen Gedanken in das kölsche Gemüt, umso mehr je weiter das von Köln entfernt ist. Zeigen kann der Kölner das natürlich niemandem, aber es treibt ihn um, tief im Herzen. Sofern er das nicht in den tollen Tagen verschenkt hat, und vergessen es wieder einzusammeln. Der nächste Karneval ist weiter entfernt denn je, der Blick nach vorne verheddert sich in der grauen Fastenzeit und das Jetzt leidet unter Restschminke. So bleibt nur der Blick zurück in die gute alte Zeit, denn dort in seinen Erinnerungen findet er die Rettung. Keiner überlebt in dieser Stadt, ohne eine Sammlung ganz eigener Erinnerungen an den Karneval, eine Kiste voller Erlebnisse, die sich – wie die Kiste mit den Kostümen- von Jahr zu Jahr weiter füllt.

So ergeht es natürlich auch mir, dem Imi. Niemand hegt auch nur den Funken eines Zweifels daran, dass der Zugereiste mit Herz und Seele Karneval feiert. Allerdings geht es dem Karnevalisten wie dem Skifahrer: Nur wer es mit der Muttermilch lernt, wird die perfekte Geschmeidigkeit erreichen. Bei allen jedoch sammelt sich über die Jahre ein persönlicher Vorrat an Karnevalserinnerungen, Wundermittel im Kampf gegen den Aschermittwochsblues:

Mein erster Karneval in Köln. Die Studentenbude bietet den sicheren Hafen für den Karnevalsbesuch aus der provinziellen Heimat. Also lautet des Gastgebers erste Pflicht: Nahrung sicherstellen; fest und flüssig. Und das spätestens an Weiberfastnacht, denn danach werden die Geschäfte geschlossen, zumindest zu den Tageszeiten, an denen sich ein Student im Laden sehen lassen kann. An der kombinierten Fleisch-Käsetheke des Supermarkts beginne ich zu verstehen warum es Weiberfastnacht heißt: ich bin von Frauen umgeben. Vor mir die Verkäuferin – mutig als Huhn verkleidet – hinter mir ein Papagei und ein Lappenclown, die gemeinsam über mehr als hundert Jahre Lebens- und Karnevalserfahrung verfügen.

Käse verlange ich zunächst, und zwar Gouda, ein großes Stück. Andere Käsesorten sind mir in dieser Lebensphase noch fremd, außer Schmierkäse in Dreiecksform und Babybel, aber der darf sich nicht Käse nennen. „Darf es ein Stück von dem alten Gouda sein?“ Wenn es nach der Stimme geht, so hätte sich die Verkäuferin als Hahn verkleiden sollen, ihre Frage ist auch noch im letzten Winkel des Supermarktes zu verstehen. Natürlich lehne ich ihr Ansinnen ab, der Käse muss über das lange Wochenende halten, da kann ich keinen gebrauchen, der jetzt schon alt ist. Papagei und Lappenclown hinter mir amüsieren sich köstlich.

Wenn ich meine Kompetenz in Sachen Käse noch als passabel bezeichnen würde, so musste ich im nächsten Schritt auf wirklich dünnes Eis: Ich will Rindersuppe kochen. Dafür benötige ich Fleisch, besitze jedoch keine Ahnung welches und wieviel. Ich bin nur froh, dass ich mich gegen Hühnersuppe entschieden hatte. In solcher Not hilft nur die Flucht nach vorne unter die hoffentlich warmen Flügel des Metzgereihuhns, dem ich mein Begehren und meine Unwissenheit beichte.

„Da nehmen sie ein Stück hohe Rippe und einen schönen Markknochen und dann passt das“,

so lautet ihre Diagnose und sie beginnt, die entsprechenden Teile abzuwiegen. Ein Fehler, der nicht ungestraft bleiben wird, denn sie ignoriert eine Grundregel der rheinischen Demokratie die da lautet: »Jeder der denkt, er müsste etwas sagen, wird gehört«. Die beiden Damen hinter mir mögen in ihrem Leben zehntausende von Suppen gekocht haben und werden nicht befragt? Es wäre nicht Köln wenn sie ihr Wissen nicht auch ungefragt preisgeben würden. Ohne seine Enttäuschung zu verhehlen, beginnt der Papagei:

„Also du närrisches Huhn, das ist doch Quatsch, Leiterstück braucht der Junge, damit es eine richtige Suppe gibt“.

Einsatz Lappenclown: „Das wird nichts, der ist Anfänger. Beinscheiben muss er nehmen und einen Ochsenschwanz“.

Das Huhn wagt zu widersprechen, immerhin sei es gelerntes Fleischereifachverkaushuhn!

Dieses Argument bringt die beiden Damen keineswegs zur Ruhe. Im Gegenteil, der Papagei wirkt mit den Händen an den Hüften und hochrotem Kopf wie eine mittelalterliche Marktschreierin und der Lappenclown geht dazu über, seine Argumente mit dem Trommelstock zu untermauern.

Im Auge dieses Sturms entsteht ein kleiner Moment der Ruhe, den ich schleunigst ausnutze und einfach von allem etwas ordere, Leiterstück, Beinscheibe, Markknochen, Ochsenschwanz und hohe Rippe landen in meiner Tüte. Die Suppe war nicht günstig, aber hervorragend. Wer sagt denn, dass ein Kompromiss immer auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner enden muss.

Der singende Biergarten – Nippestrilogie Teil 2

Jede Stadt besitzt ihre eigenen Lieder, zumindest eines davon. Und wenn nicht, wie die Hansestadt Bremen, dann veranstaltet der Bürgermeister des armen Ortes einen entsprechenden Wettbewerb. Der siegreiche Titel: „Bremen gibt Vollgas“! Das wird auch bitter nötig sein, um die anderen einzuholen.

Denn manche Städte sind über diese bescheidenen Anfänge weit erhaben. Nehmen wir Bochum, da, reicht es, wenn ein mittelmäßig begabter Barde „Tief im Westen …“ in ein Mikrofon schnarrt und die Band kann eine Pause machen, weil alle Zuhörer mitsingen. Und ist das Pausenbier am Ende des Liedes noch nicht leer, dann bleiben die Zuschauer auch davon unberührt und zelebrieren ein vielstimmiges „Glück auf“. Glückliche Bochumer, sie achten ihre Stadt und konzentrieren sich darauf, stehen mithin auf der zweiten Stufe der Erleuchtung.

Wer allerdings in Deutschland musikalisch die siebte und letzte Stufe dieser Erleuchtung – das Ausbreiten tiefer Freude und Glückseligkeit – erreichen möchte, dem bleibt nur der Weg nach Köln. Zum Beispiel in den singenden Biergarten im Agnesviertel, wo Günther seiner Mundharmonika nur ein paar Töne entlockt und schon tönt es aus siebenhundert Kehlen: „Ich bin ene kölsche Jung“. Dabei ist die Hälfte der Kehlen weiblich und weitaus mehr als die Hälfte „Imis“, also gar nicht in Köln geboren.

Dieses wunderbare kölsche Wort „Imi“ wird häufig falsch geschrieben als „Immi“ und auch falsch verstanden als Kurzform von Immigrant. Nichts jedoch läge dem Kölschen ferner, denn er kennt ja seine Lieder und weiß: „Su simmer all he hinjekumme…“, also dass jeder irgendwie ein Immigrant ist. Natürlich muss es „Imi“ heißen und das ist eine Abkürzung für einen „imitierten Kölschen“. Für mich ein Ehrentitel, der von jedem Zugereisten erarbeitet werden muss, den aber auch jeder erhalten kann.

Schwieriger ist da schon die Frage, wann denn dieser Status erreicht ist? Eine allgemeingültige Regel gibt es nicht, wie so oft gilt auch hier „Hey Kölle, do bes e Jeföhl“. Vielleicht hilft ein Beispiel: Wenn meine westfälischen Freunde, am Ende einer Kneipennacht im Karneval, mit den letzten Stimmresten singen: „Die Karawane zieht weiter, der Sultan hält durch“, dann sind sie eben noch keine Imis. Der kölsche Sultan muss nicht durchhalten, sondern er hat einfach Durst.

Wann genau ich zum Imi geworden bin, kann ich nicht mehr sagen. Vermutlich am Tag der Vordiplomprüfung, die auf Weiberfastnacht fiel. An der altehrwürdigen Universität zu Köln war es üblich, im Anzug zur Prüfung zu erscheinen. Der Kölner ahnt es bereits, kurz hinter dem Unicenter hatte ich jede Menge Küsschen erhalten aber meine einzige Krawatte schrumpfte auf weniger als die Hälfte ihrer ursprünglichen Länge. Der prüfende Professor – wie ich später erfahren sollte, ebenfalls ein Imi – konnte darauf in rheinischer Geschmeidigkeit reagieren. Die unzureichende Antwort auf seine erste Frage kommentierte er gelassen: „Wer nur eine halbe Krawatte besitzt, besteht auch mit der halben Lösung“.

Vielleicht geschah es aber auch, als ich erkannt hatte, welche Rolle das kölsche Liedgut im Alltagsleben besitzt. Egal ob an der Ladentheke oder im Restaurant: Wenn die Rechnung nicht stimmt, muss sich der Kölner weder mit dem Kassierer noch mit dem Köbes streiten. Der sanfte Einwurf: „En d’r Kayjass en d’r Schull?“ wird garantiert zu einem korrekten Ergebnis führen.

Der Kölner singt nicht über seine Stadt, er singt mit ihr und in ihr, weil er eben Köln ist. Überall sonst würde das Lied heißen „Ich bin in Kölle am Rhein zu Hause“, nur in Köln heißt es „Ich ben vun Koelle am Rhing ze Hus“. Ein kleiner aber wichtiger Unterschied, denn während das Wörtchen „in“ einzig den Ort beschreibt, so macht das „von“ den Kölner zum Teil seiner Stadt. Dadurch wird sie lebendig. In aller Welt erbt die Stadt von ihren Bürgern, wenn sich keine Nachfahren finden, nur in Köln erbt der Bürger von seiner Stadt: Gute Laune und mit nichts etwas am Hut zu haben. Damit der Worte genug, denn „Et jitt kei Wood dat sage künnt, …“

Im Veedel. Nippestrilogie Teil 1

Donnerstagmorgens in Köln-Nippes und ich bin spät dran. Trotzdem halte ich noch an der „Kaffeebud“ in meinem „Veedel“ an, ein Kaffee für den Weg zur Arbeit wird mich aufwecken. Vor dem Büdchen steht das Müllauto und darin dann auch die leuchtend orangefarbene Besatzung: drei Müllmänner, die gerade bestellen. Damit rückt die Beute in weite Ferne. Ausgerechnet der Grund, weshalb ich den Morgenkaffee so gerne in dieser Bude kaufe, wird mir jetzt zum Verhängnis, denn hier wird jede Tasse mit Liebe und frisch zubereitet. Ein resignierter Blick auf die Armbanduhr sagt mir: Das wird nichts mehr.

Doch dann nimmt das Schicksal eine unverhoffte Wendung, die so selbstverständlich nur in Köln gelebt wird. Der kleinste der Müllmänner bemerkt meine Zeitnot und fragt bedächtig die beiden Kollegen: „Solle mer dä Schlipsdräger vürlooße?“. Die Zwei drehen sich zu mir um und betrachten mich aufmerksam. Dem einen ist offensichtlich der Werksausweis an meiner Hose aufgefallen, denn seine Antwort lautet: „Dä arbeid beim Ford, de han sich allemol god benomme“. Damit ist die Sache positiv beschieden und ich stehe schon Sekunden später mit einem heißen Pappbecher vor dem Büdchen. Natürlich: Das Ganze kostet mich vier Kaffee, ein kleiner Preis für das Wissen in einem Viertel zu wohnen in dem „Drenk doch eine met“ nicht nur ein Karnevalslied ist, sondern gelebte Gastfreundschaft bedeutet.

Sicher, gelegentlich übertreibt es der Kölner auch mit seiner Liebe zum „Veedel“. So wie am Abend im „Osters Rudi“, eine dieser Kölner Eckkneipen wo jeder am richtigen Platz ist, der nicht die Einsamkeit sucht. Auch ich werde »direk« angesprochen: „Wo küss do dann her?“ so eröffnet einer der Thekenbrüder die Konversation. „Aus Nippes“, antworte ich wahrheitsgemäß und nach meiner morgendlichen Kaffeebegegnung nicht ohne Stolz. „Dat es ald klor, ävver vun wu?“
Sicher, wer in der schönsten Stadt der Welt lebt, ach was sage ich des Universums, der muss sich über sein Stadtviertel, oder besser Stadtsechzehntel, von den anderen Privilegierten abheben. Also kann es im Osters Rudi natürlich niemals »Neppes« heißen, sondern immer nur »Sechzigveedel«. Die Frage gefällt mir – immerhin wohne auch ich im Sechzigviertel – aber überzeugend ist sie nicht. Denn spätestens durch Herrn Adenauer weiß jeder Kölner: Sibirien beginnt erst hinter Deutz und nie und nimmer bereits an der Neusser Straße.

Manche Menschen behaupten, unsere Stadt sei keineswegs schön anzusehen. Kein echter Kölner wird bestreiten, dass es Städte gibt, die adretter aussehen. Wahre Schönheit kommt jedoch von innen und offenbart sich allein demjenigen, der den Schritt wagt zu leben und nicht nur zu betrachten. Wenn die Bläck Föös ihre Vorgärten gepflegt hätten, anstatt Lebensweisheiten in Liedern zu verpacken, dann könnte diese Stadt vielleicht ansehnlicher sein. Und würden die Müllmänner Straßen kehren, anstatt mich vorzulassen, vielleicht auch ein wenig sauberer. Trotzdem, alle die hier wohnen wissen eines genau: Schöner ist Köln eindeutig so, wie es ist. Und bekanntlich is es da am schönsten, wo es schön ist.

Poolgeplauder

Natürlich, die heißen Quellen von Esalen sind schon für sich selbst grandios, die Becken kleben an den Klippen über dem Pazifik wie Schwalbennester, aus den Duschen erkennt man die Fontänen der vorbeiziehenden Wale und das Wellenrauschen beruhigt im Zusammenspiel mit dem heißen Wasser selbst größte Aufregung.

Was die Quellen aber noch viel wertvoller macht, sind die Begegnungen und Gespräche mit den anderen Gästen. Zumeist handelt es sich um Amerikaner, allerdings solche die weit davon entfernt sind Durchschnittsamerikaner genannt zu werden. Der weite Abstand zur US Norm ist schon daran erkennbar, dass Badekleidung optional ist, was bedeutet sie ist nicht vorhanden. Das funktioniert im Rest der Vereinigten Staaten noch nicht mal für Einjährige im eigenen Garten.

Was daraus entsteht: Eine Mischung aus amerikanischer Offenheit zum Smalltalk gepaart mit überraschenden Inhalten. Das Gespräch in der sprichwörtlichen Badewanne beginnt ganz nach dem üblichen Ritual: „Ich bin Mark! Wie heißt Du? Woher kommst Du“. „Aus Köln“ antworte ich wahrheits- und ritualgemäß, doch dann folgt die große Überraschung, „Oh aus Köln, das ist doch die Stadt wo die ganzen Bären herkommen!“.

Mein Gehirn schaltet von Smalltalk zu voller Aufmerksamkeit. Da muss er jetzt was verwechseln, „Die Stadt mit der großen Kirche“ wäre normal, auch „Das liegt doch ganz im Norden“ habe ich schon oft gehört. Aber Bären aus Köln? Mark sieht das ich irritiert bin und beeilt sich zu erklären: „Bären nennen wir Schwulen große Männer die überall viele Haare besitzen, davon habe ich am Christopher Street Day in Köln ganz viele gesehen“. Schön dass ich auch aus der Ferne noch etwas Neues über meine Heimatstadt lernen kann.

Nun mag man ja darüber streiten wie wichtig es für den Nichtschwulen ist, die Nomenklatur der schwulen Männertypen zu verstehen, aber die Badepartner liefern auch Handfestes. Neue Geschäftsideen zum Beispiel. Nachdem ich mit Livian die üblichen Eröffnungsfloskeln gemeistert habe, erklärt sie ihre neue Strategie als Beraterin: Seminare zum Thema Stressmanagement für Rentner. Die haben wohl alles was sie braucht: Zeit, Geld und zu meiner großen Überraschung auch reichlich Stress. Das Geschäft läuft blendend.

Oder doch lieber wie John eine Kariere als Biobauer? Das ist natürlich ein alter Hut, nur von Biogemüse zu leben ist aber sehr schwierig. Zum Glück hat seine Heimat Colorado gerade als erster US Bundesstaat Marihuana legalisiert und der Bedarf nach gutem Hanf aus biologischem Anbau steigt schnell. Die Konkurrenz aber auch, inzwischen sind innovative Endprodukte gefragt. Sein aktueller Verkaufsschlager: statt der guten alten Kekse, gibt es angereicherte Gummibärchen, selbstverständlich mit Biosüßholz und natürlichen Farbstoffen. Ich habe ihm fest zugesagt bei meiner Rückkehr nach Deutschland mit einem Pröbchen bei Haribo anzuklopfen.

(Bilder gibt es auf http://www.esalen.org)

Zeit und Geld

Ausgerechnet ein Parkscheinautomat? Noch dazu mitten in der Nacht am Flughafen? Im Normalfall verkünden Parkscheinautomaten keine großen Weisheiten und starke Gefühle schaffen sie auch nicht. Meistens sind sie darauf beschränkt gut sichtbar und verwurzelt zu stehen um Geld einzusammeln. Doch dieser hier ist vollkommen anders.

Ich kenne ihn schon von unzähligen Dienstreisen, bisher hat er sich immer so benommen wie andere Parkautomaten auch, er verwandelt Zeit in Geld. Kreditkarte rein, Parkticket raus, mehr ist zwischen uns nie gewesen. In seiner Mitte blinkt noch einer dieser altmodischen Bildschirme, zwei Zeilen in unscharfer Pixelschrift, auf denen 15:21 so wie 12:51 aussieht, wenn man von oben draufschaut. Doch heute überrascht er mich in seinem fröhlichem Rot mit der Nachricht „Ihre Kreditkarte ist ungültig“, das „ü“ durch ein verwaschenes „ue“ ersetzt.

Ungläubig schaue ich ihn an, doch dann beginne ich zu verstehen. In Finanzfragen ist mein Arbeitgeber effizient und konsequent: die Firmenkreditkarte ist bereits gekündigt. Was ich hier gerade erlebe ist das erste untrügliche Zeichen: Das Sabbatjahr steht vor der Tür, liebe Welt ich komme!

Natürlich nur, wenn es mir gelingt genügend Bargeld für den Parkautomaten aufzutreiben, ansonsten ist schon am Flughafen Köln Feierabend. Einen Euro nach dem anderen füttere ich der hungrigen Maschine und mit jeder Münze erstrahlt meine Erkenntnis heller: Ich kaufe Zeit für Geld!

Früher schien es mir unverständlich, dass jemand für meine Zeit viel Geld bezahlt. Aber, das Geld verliert mit der Zeit an Wert, ganz im Gegensatz zur Zeit. Ein wenig Zeit vermag ich mir zu kaufen, aber ihren Lauf wird das nicht ändern. Leichte Melancholie macht sich in mir breit und das merkt wohl auch der betagte Automat. Während er meine Quittung druckt, flüstert er mir ratternd zu: „Entspann Dich! Alles ist gut und Du gehst freiwillig auf Weltreise. Es ist ja nicht als würdest Du nach Düsseldorf ziehen“.

Karnevalstherapeut

Ich bin auf der Suche, der Suche nach einem neuen Beruf. Nicht für mich, sondern für uns alle. Also natürlich nicht für alle von uns, sondern einfach einen der deshalb neu ist, weil es ihn bisher noch überhaupt noch nicht gibt, den bisher noch niemand ausübt.

Weshalb ich danach suche? Das ist schnell erklärt, ich suche einen Gegenpol zu all den neuen Berufsnamen, die aber nur neuer Name und selten neuer Inhalt sind. Wie der „Speiseeishersteller“, im letzten Jahr hat der erste Jahrgang die Ausbildung beendet. Klar, und bis dahin waren das alles Italiener die das Rezept von ihrer Mama in Sizilien geklaut hatten!  Oder der „Systemgastronom“, bis zur Erfindung dieser Berufsausbildung, haben bei McDonalds wohl nur genau die Sterneköche Hamburger gewendet, die heute den Fernsehkoch im Privatfernsehen geben.

Ein Studiengang zum „Virtuellen Industrieingenieur“ in Tuttlingen ist zwar vielleicht neu, aber der muss sich dann sowohl das Karo Hemd als auch den Samenstau selbst am Computer programmieren. Mir scheint, nicht alles was neu ist macht deshalb auch gleich Sinn.

Im Gegensatz dazu bin ich auf der Suche nach wirklichen neuen Berufen, welchen die gebraucht werden und die unsere Gesellschaft einen Zusatzwert schaffen. Solche, die nicht nur eine Person ernähren, sondern das Gemeinwesen. Meine bisher beste Entdeckung ist der Beruf des Karnevalstherapeuten.

Wenn Du jetzt glaubst der Karnevalstherapeut soll den Karneval therapieren: Schöne Idee wenn Du aus Westfalen kommst, aber natürlich völlig daneben. Der Musiktherapeut therapiert ja auch nicht die Musik. Obwohl, bei so mancher Musik wäre das vielleicht gar keine so dumme Idee.

Beim Karneval hingegen ist die Idee völlig abwegig. Beethoven, Bap oder die Toten Hosen, die bekommst Du zumindest theoretisch auf die Couch, aber den Karneval niemals. Bestenfalls schleppt der Dich in die nächste Kneipe.

Nein, Therapie durch Karneval ist die Berufung des glücklichen Karnevalstherapeuten. Der Karneval therapiert Dich, im Rheinland eine Tradition, sozusagen ein Naturheilmittel, wie Aspirin in der Atemluft. Jeder wird therapiert und ist gleichzeitig Therapeut. Eulen nach Athen zu tragen, oder Printen nach Aachen wäre sinnvoller als die Arbeit eines Karnevalstherapeuten in Köln.

Aber in der Diaspora, in Münster, in Hamburg, in Schwaben, Oberösterreich, Paris, London, New York, praktisch überall außer im Rheinland und in Brasilien ist das Potential millionenschwer. Einfach eine Weltkarte hochhalten und schon wird Dir das Venture Kapital in breiten Strömen zufließen.

Aber wie so häufig ist der Segen auch Fluch zugleich, diesmal einer der meine ganze schöne Idee zum Wanken bringt. Was nützt mir ein Beruf der nur an solchen Orten ausgeübt werden kann, an dem die Zivilisation es noch nicht geschafft hat den Karneval zu entwickeln? Manche Dinge kann man einfach nicht analysieren, die müssen einfach gefeiert werden, also: „Kölle Alaaf.“

Öko-Multi-Kulti

Tatort Kantine, heute gibt es Frikandel mit Fritten. Vor mir in der Schlange ein Kollege, der augenscheinlich türkischer Abstammung ist. Der Türke fragt den Koch hinter dem Tresen: „Was für ein Fleisch ist denn das?“, während er auf die Frikandeln zeigt. Der Koch schaut zwischen den Frikandeln und dem türkischen Kunden hin und her, kratzt sich kurz hinterm Ohr und sagt dann, im Tonfall frischgewonnener Erkenntniss, ohne jedoch überflüssig Worte zu verschwenden: „Holländisches!“.

Ja, Köln ist multikulturell und stolz darauf, aber zuweilen eben doch eher Einbahnstrassen Multi-Kulti. Die Sorte, bei der ich mich weltgewandt auf dem Strassenfest vom Sirtaki zu den Spaghetti bewege, beim Diavortrag über den Himmalaya den Tee mit echten Sherpas teile oder am Sonntagmorgen den eleganten Schwarzafrikanern beim Fussballspielen – oder besser gesagt beim Fussballtanzen – zuschaue.

Aber, wie ist das mit der anderen Richtung. Wann habe ich das letzte Mal für meine jüdischen Freunde koscher gekocht, oder ein Theaterstück besucht in dem die Schauspieler türkisch reden. Ich gebe zu, die andere Richtung, dass Geben, erfordert ein klein wenig Umdenken; es ist etwas mehr als einfach nur unsere existierenden Sitten zu erweitern.

Kein Rasenmähen am heiligen Sonntag etwa, konsequent dann auch nicht am Sabbat wegen der Juden. Besser auch auf die Muslime Rücksicht nehmen und den Freitag auslassen. Blumenwiese statt Wembleyrasen, plötzlich ist Multi-Kulti dann auch noch Öko.