Von der Insel 3

Dem Reisenden, der den Flughafen Stansted verlassen möchte – und ehrlich betrachtet gibt es keinen Grund zu bleiben – steht nur eine Straße offen, die Autobahn M111. Und glücklich ist derjenige, der nicht mit einem Pferd oder einer Kutsche ankommt, denn diesen Gefährten wird an der Flughafenausfahrt dieser einzige Ausweg mit eindeutiger Beschilderung versperrt. Wer hoch zu Roße oder auf mit einer Droschke unterwegs ist, darf nicht vom Flugplatz scheiden.
Weit hergeholt? Mit Sicherheit, aber eben auch wahr. Ausgerechnet in England – dem Mutterland der sanften Hinweise – trifft den Pferdenarr ein Verbotsschild mit einer Vehemenz, die selbst die Autobahnbrücke in Leverkusen von fehlgeleiteten Lastwagen befreien würde. Und das in einem Land, welches die direkte Verneinung und das Verbot scheut wie der Teufel das Weihwasser. Bleiben wir bei dem Beispiel der Leverkusener Brücke. Stünde die, was der liebe Gott verhüten möge, in England, dann wäre dort anstelle des Verbotes ein schlichter Hinweis angebracht: „Für Schwerverkehr nicht geeignet“. Und dieser Hinweis würde absolut jeden Lasterfahrer von der Brücke fernhalten.
Warum aber dann die ungewöhnlich eindeutige Beschilderung am Flughafenausgang? Und warum ausgerechnet gegen Pferde und Kutschen gerichtet? Ich sehe ja ein, dass die M111 für Ausritte denkbar ungeeignet ist, aber das gilt für nahezu alle Autobahnen in London und bisher konnte ich an keiner anderen Auffahrt ähnliche Schilder entdecken. Es muss also etwas anderes dahinterstecken.
Es könnte am britischen Rechtssystem liegen, das auf Präzedenzfällen beruht die manchmal seit mehreren Jahrhunderten Gültigkeit besitzen. Vielleicht klagte 1783 ein britischer Bürger darauf, dass ein öffentlicher Hafen jederzeit mit der Kutsche erreichbar sein muss, und bekam damit Recht? Dieses Recht verlor niemals die Gültigkeit und natürlich ist auch ein Flughafen als Hafen zu bewerten. Also darf die Verwaltung keinen Kutschenfahrer daran hindern, zum Flugfeld zu kutschieren. Ein findiger Beamter kommt auf die Idee diesen Gefährten dann die Rückfahrt zu untersagen, davon hatte der Richter im Jahr 1783 nicht gesprochen. Eine elegante Lösung des Dilemmas! Welcher Kutscher möchte sein Gefährt zum Flughafen fahren, wenn er es dann nicht wieder zurückbekommt, von den Preisen für das Parken in Stansted einmal abgesehen.
Zugegeben, meine Erklärung ist reichlich konstruiert, aber das ist in England kein Problem. Sie besitzt aber einen anderen, viel größeren Haken: Ein solches Vorgehen erscheint unfair gegenüber den Reitern und Kutschern. Und unfairen Umgang kann es nicht geben – schon gar nicht für Pferdebesitzer – dafür sind „Fair Play“ und Reiten im Inselstaat ein viel zu hohes kulturelles Gut.
In der Not bitte ich meine Kollegen um Hilfe: Wozu dienen die Schilder, die obendrein noch nagelneu in der Sonne glänzen? Und warum strotzen sie so von deutscher Direktheit? Zunächst bekomme ich nur ausweichende Antworten, was aber meine Neugierde nur steigert. Also entschließe ich mich zum Äußersten und dränge einen der Kollegen so lange in die Ecke, bis er der Antwort nicht mehr ausweichen kann: „You know, at the airport we do have quite some travellers“.
Soweit kann ich ihm folgen, das mit den Reisenden soll an Flughäfen zuzeiten vorkommen. Ich lehne mich zurück und warte auf den Rest der Erklärung, doch sie kommt nicht. Nach einer langen Pause empfindet der Kollege offensichtlich Mitleid mit mir und meinem hilflosen Blick: „I mean THESE travellers, mainly in the winter“. Langsam geht mir ein Licht auf, und die Suche im Onlinewörterbuch bestätigt meine Vermutung: Bei den Reisenden handelt sich um Zigeuner, die gerne rund um den Flughafen ihr Winterquartier aufschlagen.

 

(der dritte und vorerst letzte Teil der Inseltrilogie, so den Teilen eins und zwei geht es hier:

https://koelnerzeilen.wordpress.com/2013/08/19/von-der-insel-teil-2/

https://koelnerzeilen.wordpress.com/2013/07/12/von-der-insel-1/   )

Von der Insel 2

„Bye Bye, my Darling“, „This is for you, Sweetheart“, “Thanks, My Lovely“. Formulierungen, die ich von Menschen aus meinem engsten Umfeld gelegentlich höre, zumindest aber von Menschen die ich bereits etwas länger kenne als dreißig Sekunden, nicht so in England. „My Lovely“ nennt mich die Grenzbeamtin, „Sweetheart“ die Bedienung und für die Taxifahrerin bin ich „Darling“. Soviel zum Mythos der britischen Zurückhaltung. Aber vielleicht hat ja die Geburt eines neuen potentiellen Thronfolgers auch die Gemüter etwas verwirrt, das Ereignis ist anscheinend höchst bedeutsam und in aller Munde.

Das Telefon klingelt und aus purer Gewohnheit nehme ich den Hörer ab, obwohl es sich mit Sicherheit um einen Anruf für den britischen Kollegen handelt, dessen Büro ich freundlicherweise nutzen darf.  Der Lohn für die Mühe ist eine Einladung zu einem Dinner mit Prinz Charles. Aufgrund meiner herausragenden Leistungen für Großbritannien und die königliche Familie, entstehen für mich keinerlei Kosten, alleine der Besucherausweis zum Buckingham Palace macht eine Gebühr von zweihundert Pfund erforderlich, vorab zu entrichten.

In einem Land, welches für das Betreten von Kirchen Eintrittsgelder verlangt, ist auch eine solche Gebühr nicht undenkbar. Aber eine kurze schonungslose Selbstanalyse meiner persönlichen Beiträge zum britischen Wohlergehen, bringt mich doch ins Zweifeln. Irgendwie erinnert der Anrufer an den netten Herren aus Nigeria der mir gelegentlich eine Mail schickt; der mit dem Millionenvermögen das er gegen eine kleine Gebühr teilen will. Die Rolle der nigerianischen Millionen, scheint hier jedoch Prinz Charles zugefallen zu sein.

Der Scam-Profi am Telefon nimmt meine skeptische Haltung gelassen hin, zumindest bis zu dem Moment als ich erkläre, dass ich keinerlei Interesse an einem Dinner mit dem Prinzen hätte. Sehr unmissverständlich macht er mir klar, dass er schon alle Antworten gehört hat, aber noch nie eine solche Unverfrorenheit. Es dauert eine Weile bis ich erkenne, welchen Kardinalsfehler ich gerade begangen habe.

In einer abgelegenen Gegend Afrikas wurde ich von einem Einheimischen vor vielen Jahren gebeten ihm ein Moped zu kaufen. Meine Antwort, dass ich das nicht könnte, wollte er beim besten Willen nicht akzeptieren. Erst als ich ihm erregt erklärte: „Ich will nicht!“, schlug er mir freundlich und verstehend auf die Schulter und das Thema war beendet. Er hatte natürlich Recht, als –vergleichsweise – reicher Europäer hätte ich ihm sehr wohl ein Moped kaufen können, aber wenn ich das nicht wollte, dann war das in Ordnung.

Wenn es nun wie im vorliegenden Fall um Engländer und ihr Königshaus geht, gilt das Prinzip auch, nur mit umgekehrtem Ergebnis. Natürlich ist es vollkommen akzeptabel nicht zu können, aber bei diesem Angebot eines Dinners mit Prinz Charles nicht zu wollen, ist gänzlich unvorstellbar. Also ändere ich meine Strategie und behaupte mir momentan die Vorabgebühr schlicht nicht leisten zu können, womit das Gespräch auch gleich wieder in ruhigere Fahrwasser gelangt.

„Sir, if you can’t afford it right now, I sure can call you back in a few months“. Hier ist sie meine Chance vollkommen unangebracht und dennoch echt britisch zu agieren, mein honigsüßes „Bye Bye my Darling“ beendet das Telefonat.

Von der Insel 1

Sprichwörtlich ist sie, die Höflichkeit der britischen Inselbewohner und überall im Königreich wird sie gelebt. Auf dem Kricketplatz im ländlichen Essex wird den Kindern zunächst einmal das richtige Händeschütteln mit dem Gegner beigebracht: beide Füße auf eine Höhe stellen, aufrechte Haltung, dem Gegenüber in die Augen schauen, fester Händedruck und während des Loslassens die kleinste Andeutung einer  Verbeugung; nur ein Hauch mehr als Kopfnicken, aber dieser Hauch ist entscheidend. Nach einer Stunde ist das Training beendet, ohne dass Ball oder Schläger zum Einsatz kommen, das ist aber wohl nicht tragisch, denn wesentlich mehr an sportlicher Bewegung, ist im Kricket ja auch beim Spielen nicht erforderlich.

Im gleichen Alter habe ich in der Fußball F-Jugend der Spielgemeinschaft Aumenau/Seelbach schon die Blutgrätsche auf dem Ascheplatz geübt. Ganz abgesehen davon, dass wir Kinder noch  nicht verstanden hatten, dass der SV Seelbach, in der letzten Saison noch der Erzfeind unseres TUS Aumenau, jetzt Teil einer Spielgemeinschaft mit uns sein sollte, war alles Mögliche Teil unseres Trainings, nur nicht Höflichkeit. Im Kontrast zwischen Blutgrätsche und Händeschütteln muss sie irgendwo entstehen, die britische Höflichkeit.

Offensichtlich wird sie in den Schildern, welche das öffentliche Leben regeln. „To enjoy full benefits, please take a shower before using the pool“; so belehrt mich ein Schild im Hotelschwimmbad. Welche Vorteile aus der Dusche vor dem Bad entstehen bleibt offen, aber die Formulierung ist wohltuend und motivierend, insbesondere für alle die noch die klassische Version des deutschen Bademeisters kennen – der seine Badehose wie eine Gardeuniform trägt und dessen zackiger Ruf „Duschen! Aber flott“ mir noch heute im Kopf klingt, sobald Chlorgeruch meine Nase trifft.

Die höfliche Formulierung ist aber keineswegs auf elitäre Wellnessbereiche beschränkt, sondern findet sich auch im profanen Alltag wieder. „Caution: Female cleaners may be in attendance“, warnt mich ein Schild vor der Herrentoilette. Wenn in Deutschland ein Schrubberstiel diagonal in die Klotür geklemmt ist, dann ist das schon die höfliche Variante. Eine von innen abgeschlossene Toilettentür, an der ich mir überrascht die Nase plattdrücke oder die Begegnung mit einer feudelschwingenden Reinigungsverantwortlichen, die bestimmt verkündet: „Et es zo“, sind die wesentlich wahrscheinlicheren Fälle.

Das einfältige deutsche Gemüt könnte an dieser Stelle natürlich auf den Gedanken kommen, die freundliche britische Variante sei weniger verbindlich, als die direkte Ansage in deutschen Landen, dem kann ich allerdings nur Vorsicht anraten. Auf die höfliche Frage „Would you mind to take of your shoes“ des britischen  Grenzbeamten wahrheitsgemäß zu antworten: “Lieber nicht!”, kann schnell zu einer deutlichen Eskalation führen. Aber auch dann wird der Engländer den unvermeidlichen Tatbestand der Verhaftung freundlich und positiv beschreiben:“He’s been taken at her Majesty‘s pleasure“.