Die Geschichte eines Moralisten: Teil 1 der Eifeltrilogie

»Gestatten, Eduard Pommerich, Oberlehrer im Ruhestand«

Das Schicksal hat mir einen Campervan, ein freies Wochenende und laues Frühlingswetter untergeschoben. Besser könnte ich auch bei der sprichwörtlichen Fee mit den drei Wünschen nicht wegkommen. Die Eifel ruft, und zwar nach einem Stellplatz fernab von jedem Campingplatz, ohne aufblasbaren Jägerzaun darf ich dort nicht nächtigen. An unrechtmäßigen einsamen Plätzen besteht jedoch kein Mangel, schon bald entdecke ich meinen Favoriten. Einzig der Hochsitz auf der anderen Seite des Tales stimmt mich anfangs skeptisch, stehe ich nicht genau in der Schusslinie? Andererseits passt ein Campervan nicht in das Beuteschema des deutschen Waidmanns, Großwildjagd ist was für Afrika. Und das sollte selbst in der Hocheifel bekannt sein.

Also bleibe ich, sitze ich in der Abendsonne vor meinem Camper und erfreue mich an Aussicht, orangefarbenen Linien, die Flugzeuge für mich in den Himmel malen, dem rhythmischen Klopfen eines Buntspechtes und der Lektüre meines Buchs in das ich vollkommen versinke. So lange, bis der Buntspecht schweigt und Herr Pommerich vor mir steht:

»Gestatten, Eduard Pommerich, Oberlehrer im Ruhestand«

Welch ein Satz! Der Mann muss sich direkt aus dem Museum vor mir materialisiert haben! Deswegen konnte er auch lautlos vor mir auftauchen. Jedes Wort ein Anachronismus, und die Erscheinung unterstützt das Bild. Herr Pommerich ist gut einen Meter und sechzig Zentimeter groß, einachtundfünfzig, wenn ich die karierte Schlägermütze auf seinem Kopf nicht mitzähle. Selbst sein Schatten hält sich kerzengerade und jedes Hautfältchen in seinem pensionierten Gesicht ist säuberlich rasiert. Begleitet wird er von einem, ebenfalls ergrauten, Rauhaardackel an einer neongelben Hundeleine.

»Guten Abend!«

Mein Gehirn ist viel zu beschäftigt, um eine intelligentere Antwort zu erdenken. Warum tragen pensionierte Lehrer immer Schlägermützen? Und woran erkennt ein Rauhaardackel, dass die Beute zur Strecke gebracht ist, wenn sein Herrchen nur einen Stock und ein scharfes Mundwerk besitzt? Wie lange wird seine linke Pfote noch auf mich zeigen? Währen ich noch nach Antworten suche, feuert der Oberlehrer bereits die nächste Ladung verbalen Schrotes ab:

»Dieser Wald ist Teil meines Dorfes!«

Das ist, wie ich finde, äußerst großzügig bemessen, denn das nächstgelegene Dorf ist mindestens drei Kilometer entfernt. Luftlinie! Eine göttliche Eingebung befiehlt mir, diesen Gedanken nicht auszusprechen. Stattdessen schaue ich nur dümmlich zwischen dem langsam ermattenden Hund und dem immer vitaler wirkenden Rentner hin und her.

»Eine Nächtigung an dieser Stelle befände sich in misslichem Konflikt mit einer Reihe von Vorschriften, die gleichwohl nützlich wie wichtig ich zu erachten die Pflicht besitze«

Wie bitte? Ich verstehe nur die Hälfte, aber eines verstehe ich: Die Situation wird langsam ungeschmeidig. Pommerich hat sich als Amtsperson etabliert (Oberlehrer!), ein Fehlverhalten postuliert (Wildcampen!), sein persönliches Interesse dokumentiert (»Mein« Dorf) und mich als Täter identifiziert.

Ich mag das Wildcampen ja als lässliche Sünde verstehen, aber der dramatischste Regelverstoß im Leben des Herrn Oberlehrers bestand bestenfalls daraus, am Karfreitag unbewusst eine Schlagermelodie gepfiffen zu haben. Vor fünfunddreißig Jahren, wenn überhaupt. Mir muss eine überzeugende Antwort einfallen, und zwar sofort, sonst eskaliert die Lage. Ich starte einen Versuch, vielleicht geht es mit Lokalpatriotismus:

»Wissen Sie, ich bin Romanautor und möchte die Landschaften authentisch erleben, bevor ich darüber schreibe!«

Weiter daneben hätte ich nicht liegen können, denn Pommerich setzt zu einer Tirade an, die selbst den Dackel dazu bringt die pflichtgemäße Beute (mich!) aus dem Auge zu verlieren und verwundert nach seinem Herrchen zu schauen. Der schwingt seinen Wanderstab durch die Luft, wie sintemals den Rohrstock über dem Hintern des Pennälers:

»Das kennen wir! Diese Möchtegernschriftsteller, kommen aus dem Moloch ihrer Städte, sehen das erste Mal seit Menschengedenken einen Bauernhof und glauben dann der Milchknecht sei ein Original. Am Ende stehen auf dünnem Papier noch viel dünnere Sätze und alle Eifler sind entweder ahnungslose Bezirkstrottel oder bringen sich gegenseitig um. Glauben sie mir: Hier gibt es keine Originale!«

»Mitnichten«, sollte ich antworten, »Thema verfehlt! Setzen! Sechs! Ich sprach von den Landschaften!« Sollte ich, mir gelingt jedoch nur ein beschämtes Grinsen, wie einem Sextaner ohne Hausaufgaben.

»Sie und ihresgleichen, das wird noch ein schlimmes Ende nehmen in diesen …, diesen Städten, aber eines kann ich ihnen sagen: nicht mit uns! Nicht hier! Solange ich noch …!«

Wenn ein altgedienter Dorflehrer nur noch unvollständige Sätze stammelt, dann ist die verbale Kommunikation beendet. Mir bleibt nur noch eine Wahl: die physische Überlegenheit. Selbst wenn ich auf seine einsachtundfünfzig die fünf Zentimeter der Schlägermütze und – sehr wohlmeinende – fünfzehn für den Dackel addiere, bin ich immer noch einen Kopf größer.
Dazu muss ich aber erstmal aufstehen und zuvor mein Buch aus der Hand legen. Zugegeben, gemeinhin packe ich Bücher einfach aufgeschlagen neben mich. Wenn es pressiert, knicke ich sogar mal eine Seitenecke. Meine Jahre auf der Schulbank waren nicht vollends vergebens, denn mir ist klar: Solch Frevel an einem Buch in Gegenwart des Oberlehrers Pommerich würde meinen endgültigen Garaus bedeuten. Also schiebe ich brav das Lesezeichen zwischen die Seiten, klappe mein Buch zu und lege es, gerade wie des Lehrers Rücken, auf den Tisch. Erst dann baue ich mich in ganzer Länge vor ihm auf.

Ich kenne genügend Eifelkrimis, um zu wissen, was jetzt geschieht. Obendrein hat Eduard mir den Plot ja auf dem goldenen Tablett serviert: Der Zeuge muss beseitigt werden, bevor er reden kann. Danach kann ich den Dackel grillen. Während ich meine Hand erhebe, meldet sich die Stimme des Zweifels in meinem Kopf: »Damit reitest du dich nur noch tiefer rein, am Ende kommt eh alles raus«. Recht hat sie, und Grillen im Dorfwald ist mit Sicherheit verboten. Spontan wähle ich die Waffe des Wortes, und da mir selbst nichts einfällt, zitiere ich aus dem gerade zugeschlagenen Buch:

“Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.”

Pommerichs Blick wechselt von Ärger zu Erstaunen und fällt auf den Buchrücken, der scheinbar unbeteiligt auf dem Tisch die Seiten umklammert. Der Mann vor mir verwandelt sich wie von Zauberhand: Ein Lächeln strahlt aus seinem Gesicht, die knochige Hand übergibt den Stock der Schwerkraft und selbst der Dackelschwanz beginnt, in treuer Ergebenheit zu wedeln:

»Sie lesen Kästner? Den Fabian? Aus freien Stücken? Das nenne ich große Literatur!«

so ruft er freudig aus und beginnt seinerseits zu deklamieren:

»Die Umstände sind ebenso gewöhnlich wie ungewöhnlich«.

Damit ist mein Regelverstoß ausgeglichen und befinden wir uns an einem Punkt der Einigkeit. Weitere folgen auf dem Fuß. Ein gut temperierter Riesling von der Mosel, den ich schleunigst offeriere, ist einer der nachhaltigsten.

Obendrein spült der Riesling auch die Toleranz des Herrn Pommerich zum Vorschein, großzügig akzeptiert er den Moselwein im Plastikbecher. Allein, nicht ohne den Hinweis, das ein kultivierter Wein – und als solcher sei der Riesling aus guter Mosellage zweifelsohne zu titulieren – bevorzugt in einem unprätentiösen Kelch grüner Farbe zu gustieren sei. Nun denn, irgendwoher muss der Unterschied zwischen Lehrer und Oberlehrer ja kommen.

»In einem aber, junger Freund, …«, so beginnt Pommerich seinen Abschied, als die Flasche zur Neige geht und er leicht schwankend vor mir steht: »In einem muss ich bei aller Freundschaft insistieren: Ihre Originale werden sie hier niemals finden!«
Ja, Nein, ist schon klar!

Eifelkloster

Nur übernachten möchte ich in diesem Kloster, bestenfalls noch Frühstücken, falls ich denn früh aufwachen sollte. Keinesfalls jedoch hier zu Abend essen. Direkt nebenan ruft ein Eifeler Landgasthaus mit bester Küche, mein Sinnen steht nach Wildbraten und Rotweinsoße. Das ist aber der Versuch die Rechnung ohne den Wirt zu machen, genauer gesagt ohne Schwester Maria Antonie. Seit fünfzig Jahren begleitet sie die Klostergäste zu ihren Zimmern. Und offensichtlich freut sie sich auch heute über jeden Gast genauso wie in der Zeit, als ich noch nicht einmal in den Träumen meiner Eltern existierte.
Anstatt direkt zur Klosterzelle, führt sie mich in die hinterste Ecke der Klostergebäude, eine enge Steige hinauf und durch eine Tür mit dem Schild „Nur im Brandfall öffnen“. Der Grund: Die Sonne geht unter und von der freischwebenden Feuertreppe lässt sich das Schauspiel in Pastelltönen am besten erspähen. Das Wackeln der Treppe gleicht den wackligen Gang der alten Nonne perfekt aus, nur ich komme beinahe ins Straucheln. Glücklicherweise verlaufen die Sonnenuntergänge in der herbstlichen Eifel recht zügig, denn selbst, solange die Sonne scheint, bleiben die Temperaturen hier einstellig. Ich bin zwar angemessen bekleidet, aber nur für das Beziehen eines Zimmers, nicht für Exkursionen.
Wie das jetzt mit dem Wildbraten zusammenhängt? Schwester Maria Antonia leitet mich auf dem Rückweg am Refektorium vorbei, und vergisst dabei nicht auf das leckere Klosteressen hinzuweisen. Einmal durchgefroren schwindet in mir jegliche Motivation das heimelige Kloster heute noch zu verlassen und ich entscheide für den heimischen Herd. Allerdings missachte ich den dringlichsten Ratschlag meiner Begrüßungsnonne. Eindrücklich hatte sie darauf hingewiesen am Anfang der Essenszeiten aufzutauchen, denn, so ihre Worte, „das Warme ist früh am Leckersten“.

 

Sicher ein weiser Rat, doch was nützt das beste Abendessen, wenn es nicht Abend ist. Also erscheine ich als einer der Letzten im Saal, hohe Stapel benutzter Teller auf dem Geschirrwagen zeigen an, dass hier die sprichwörtliche Ruhe nach dem Sturm herrscht. Und ein solcher ist offensichtlich durch den Speisesaal gezogen. Bestand die achte Plage im alten Ägypten aus Heuschrecken oder Firmungskindern?
Ein wenig nervös, weil ich den eindringlichen Rat der Nonne ignoriere, bewege ich mich in Richtung Büffet. Aber ein Blick auf das Essen zeigt mir an, dass ich heute ungestraft davonkomme; der Junge in mir wird satt und glücklich das Refektorium verlassen. Die Tische biegen sich unter Essensbergen und die warmen Speisen bestehen aus heißen Würstchen, lauwarmen Kartoffelsalat mit Speck und selbst gebratenen Frikadellen. Nichts was durch ein Stündchen warmhalten an Geschmack verliert. Daneben Blutwurst, Schinken und Sülze im schweigenden Wetteifer um den höchsten Stapel. Erkenntnis des Tages: Fleisch ist keinesfalls krebserregend, sonst wäre die Eifel längst entvölkert.
Hinter dem Tresen treffe ich wieder auf Schwester Maria Antonia, welche großzügig die Teller der Gäste auffüllt.  Der Mann vor mir fragt höflich an, ob die Frikadellen denn aus Fleisch bestünden. „Selbstverständlich!“, antwortet die Nonne. „Und auch selbstgemacht, nicht gekauft?“ Diesmal zögert sie eine kleine Sekunde, bevor sie die gleiche Antwort wiederholt: „Selbstverständlich!“. Der Herr zieht mit zufriedenem Ausdruck und beladenem Tablett weiter und ich rücke nach. Schwester Maria Antonia schaut ihm für einen Moment ungläubig hinterher, wobei ich mir unsicher bin, ob eine Ordensfrau ungläubig schauen kann. Dann sammelt sie sich wieder und richtet ihr nachdenkliches Lächeln zu mir. Kaum merklich schüttelt sie den Kopf als sie mich fragt:

„Gibt es Fleischklöpse inzwischen im Supermarkt?“
„Ich denke schon“, antworte ich, „aber ich glaube die kauft keiner“.