Nordlicht Teil 2: Abisko

»Du hast ein tolles Zimmer, aber es ist noch nicht fertig.«, so begrüßt mich die junge Dame an der Rezeption. Macht nichts, denn die Sonne scheint und ich will raus in den Nationalpark, bevor sie untergeht. Das ist einer der Vorteile von Lappland im Winter, du wanderst von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang und danach bleibt noch reichlich Zeit übrig um etwas anderes zu unternehmen. Also frage ich, wo ich mein Gepäck unterstellen darf. Nachdem ich am Morgen auf dem Blankeis am Bahnsteig unbequeme Bekanntschaft mit dem hartgefrorenen schwedischen Boden gemacht habe, möchte ich gerne ohne Rucksack laufen. Auch wenn der beim Fallen den Hintern polstert.
»Kein Problem, wir haben einen Gepäckraum und ich mache ihn Dir gerne auf«, zwitschert sie und weist mir den Weg, während sie hinter sich auf einen Knopf drückt.
Am Ende des Ganges finde ich den gesuchten Raum, dank des Knopfdrucks an der Rezeption steht seine Tür offen. So weit so gut, doch als ich hineinschaue, sinkt meine Laune schlagartig. Die Kammer sieht aus, als hätte Globetrotter zwei mittelgroße Filialen in einen Container gestopft. Bis zur Decke stapeln sich Schuhe, Rucksäcke, Skibretter, Rollkoffer und Daunenjacken. Gerade rechtzeitig bevor die ersten Koffer auf mich einprasseln, kann ich die Türe wieder zuschlagen. Dann laufe ich zurück zum Empfang, um die Dame zu warnen. »Lawinenwarnstufe fünf« sage ich ihr, und zeige den Gang hinunter. Sie nickt wissend, das kommt wohl häufiger vor und sie verspricht die nähere Umgebung des Raumes zu sichern. Damit verschwindet sie in ihrem Büro.
Ob sie die Bergwacht alarmiert oder vor mir flüchtet, bleibt offen, ich jedenfalls stehe ohne Asyl für meinen Rucksack da und die Sonne wandert unbeeindruckt dem Horizont entgegen. Ich brauche eine Lösung, und zwar schnell. Erneut rettet mich die Schwitzhütte. Ich folge einem Pfeil, der die Treppe hinunter deutet, darunter das Wort »Sauna«. Wie erhofft finde ich einen verwaisten Umkleideraum, von einer einsamen Unterhose der Marke »Pfadfinderzelt« am Kleiderhaken und einem Paar Adiletten unter der Bank einmal abgesehen. Ein sicherer Ort für meinen Rucksack, Diebe lassen sich besser an der Rezeption den Gepäckraum öffnen, da gibt es mehr Auswahl und keine Treppen.
Ich krame noch die langen Unterhosen heraus, dazu Daunenjacke, Handschuhe und Wollmütze. Der Besitzer der Zeltunterhose tritt nackt aus der Sauna, ein schöner Gegensatz. Aber die Sauna muss warten, das Fjäll ruft. Der Schnee ist hartgefroren, so dass ich ohne Schneeschuhe wandere. Nur an den kurzen Steilstücken ist es rutschig, dort stehen praktischerweise kleine Birken mit kräftigen Stämmen zum Festhalten. In der Ferne rumpelt ein Erzzug in Richtung Narvik, dann herrscht einfach Stille, abgesehen vom Knirschen meiner Schuhe auf dem Schnee.
Nach einer halben Stunde verlasse ich den Weg und laufe querfeldein, es macht keinen Unterschied. Endlos erscheint die Landschaft um mich herum; eintönig und spannend. Weißer Schnee, braune Birken, schwarze Felsen, blaues Eis und im Hintergrund die altgedienten hügeligen Berge. Darüber ein Himmel, der im Eiltempo vom Morgenrot zur blauen Stunde wechselt.
Eisiger Wind wechselt mit frostiger Stille. Klein fühle ich mich zwischen diesen Kräften, aber auch entspannt. Hier bin ich dem Fjäll ausgeliefert, ein Besucher für einen kurzen Moment, der nichts verändern wird, nichts verändern kann und deshalb nur staunt. Mit dem letzten Abendrot kehre ich hungrig, frostig und mit weitem Herzen zurück ins Camp.
Das Rentiersteak wird gerade serviert, als ich zum hundertsten Mal auf mein Handy schaue, die Livecam hilft bei der Suche nach dem Polarlicht. Und statt des gewohnten schwarzen Bildes mit ein paar Sternenflecken ist plötzlich alles leuchtend grün. Die Bedienung schaltet schneller als ich: »Wir nehmen das zurück und sie können dann später weiteressen«. Sie weiß, dass alle hier sind, um das Polarlicht zu sehen, auch wenn die wenigsten es offen aussprechen. Die Natur, die Landschaft, die Einsamkeit (in einem Haus mit dreihundert Touristen), den Norden; all das listen die Besucher an Gründen auf, gefolgt von dem bescheidenen Nachsatz: »und Polarlicht wäre auch schön«. Das ist schlau, denn nicht umsonst heißt es Jagd nach dem Polarlicht. Vieles muss zusammenpassen, hohe Sonnenaktivität im Vorfeld, klarer Himmel, möglichst Neumond, Dunkelheit und der richtige Ort. Es ist eben ein Naturphänomen. Jetzt gerade passt alles zusammen, da müssen mein Magen und das Rentier durch.
Jacke, Mütze und Handschuhe liegen griffbereit, das Handy sowieso und weniger als eine Minute später stapfe ich durch den Schnee in die dunkelste Richtung, die ich finde. Den Blick gebannt nach oben gerichtet, kollidiere ich mit dem ein oder anderen Baum oder Touristen. Ich entschuldige mich freundlich bei beiden und merke erst, wenn ich eine Antwort bekomme, ob es ein Mensch war. Kaskaden von leuchtendem Grün am Nordhimmel, von dort spannt sich ein gewagter Bogen über die Berge, der nach wenigen Sekunden in fallende Fahnen übergeht. Eine kurze Pause, dann steigt das Licht in Fackeln aufwärts, gelb und lila an den Rändern. Grün dominiert den Himmel, aber es ist nicht so sehr das Licht, das mich in seinen Bann schlägt, sondern seine Bewegung. Ein anmutiger Tanz mit unvorhersehbarer Choreographie. Wirbel um unsichtbare Achsen folgen auf gewagte Salti und Abstürze aus großer Höhe.
Zwischendurch stürze auch ich auf dem dunklen Weg, aber der Schnee ist weich und ich bleibe gleich liegen. Keine Sekunde des Spektakels will ich verpassen und vom Boden ist die Sicht nicht schlechter. Ich erinnere ich mich daran, dass ich atmen muss und auch daran, dass ich Bilder machen wollte. Gerade rechtzeitig, denn so schnell wie es begann, ist das Schauspiel nach zwanzig Minuten vorüber. Nur ein grünes Nachglühen erinnert an den famosen Auftritt. Ohne weitere Kollisionen laufe ich noch eine halbe Stunde durch den verschneiten Wald, erst dann bin ich bereit für den Rest der Welt und das Rentiersteak. In dem Moment als ich den Nachtischlöffel aus der Hand lege, beginnt draußen der zweite Akt.
Ein Verleger würde die Natur hier rügen, kaum hat die Geschichte begonnen, da serviert sie das Highlight? Und hat danach nichts mehr zu bieten? Doch dem Handwerk der Natur sind, die Regeln der Menschen gleichgültig. An den beiden folgenden Tagen liefert sie Schnee, Wolken und bedeckten Himmel. Die wundervoll wissenschaftliche Polarlicht-App sagt mir nur, was ich sehen würde, wenn es keine Wolken gäbe. Und dennoch trete ich nach Sonnenuntergang ständig vor die Tür, um sicherzugehen, dass ich nichts verpasse. Stelle mir jede Nacht zwei Wecker, für die Momente an denen es eine Wolkenlücke geben könnte. Der Lohn der Mühen sind kalte Füße, unausgeschlafene Vormittage und grüne Schimmer am Nachthimmel. Überraschenderweise stört mich das wenig, denn ich habe es ja bereits gesehen. Und als hätte er doch auf den nörgelnden Verleger gehört, serviert der Himmel am letzten Abend ein Dacapo. Was zuvor in großen Bahnen leuchtete, kommt jetzt in schmalen Fackeln, schneller, feiner, aufgeregter und nicht minder faszinierend; diesmal ohne Kollisionen am Boden.

»Der Zug nach Kiruna und Lulea fährt heue pünktlich von Gleis 1«, so schallt es durch den Schneesturm auf dem Bahnhof. Keine sonderlich originelle Ansage, es sei denn, man bemerkt, dass es nur ein Gleis gibt. Auf Wiedersehen, Abisko, selten habe ich an einem Ort so wenig getan und so viel erlebt.