Nordlicht Erster Teil: Kiruna

Nördlich des Polarkreises existieren im Winter nur zwei bedeutsame Orte, Natur und Sauna. Den Aufenthalt im Freien begrenzt der Frost, die Hitze der Sauna lässt sich trainieren. Also brauche ich ein Schwitzbad um den Schock der Ankunft in Kiruna zu verarbeiten. Die Stadt draußen lässt es sich nur schwer ertragen und das nicht aufgrund der Kälte.
Kiruna hat sich seit meinem letzten Besuch aufgespalten, der Preis für den Erzbergbau. Eine neue Stadt ist entstanden, auf halber Strecke zwischen dem Flughafen und dem bisherigen Standort. Glas, Stahl, Beton, und hohe Häuser, eine Bewerbungsmappe für Architekturpreise. Das »alte« Kiruna – ist vergreist und zusammengeschrumpelt. Die Weihnachtsbeleuchtung versucht tapfer, Leben und Zukunft vorzugaukeln, und wirkt dabei wie ein blinkendes Beatmungsgerät. Meinen Spaziergang breche ich bald ab, sterbende Städte sind kein schöner Anblick. Und doch bin ich mir sicher: Die Seele des Ortes steckt hier im alten Kiruna. Ob sie umzieht weiß niemand, auch nicht wohin, aber sie wird die Letzte sein.
An der Rezeption begrüßt mich eine Frau um die Zwanzig, sie trägt einen Beanie über den roten Haaren und ein Tattoo oberhalb der linken Augenbraue. »Devoted« steht dort in großen schwarzen Lettern. Die Message passt auf jeden Fall zu der Form. Und zum Norden, die raue Welt lässt wenig Raum für subtile Hinweise. Was zu sagen ist, sagt man sich ins Gesicht. Oder schreibt es direkt drauf.
Ich hatte die Wahl, ein optimiertes Hotelzimmer in der neuen Stadt für mich alleine oder ein Bett im Schlafsaal für Männer hier in einem der Holzhäuser des alten Kiruna. Jede knarrende Diele erinnert mich daran, dass ich richtig entschieden habe. An der Theke, die sich den Platz mit der Rezeption teilt, sitzen drei junge Männer, auch sie tragen alle eine Mütze auf dem Kopf, irgendwie fühle ich mich nicht komplett angezogen.
Der Männerschlafsaal bietet, was ein guter Schlafsaal bieten muss, sechs Betten im klassischen Doppelstock, sechs kleine Schränke, drei Lampen, drei Steckdosen und wenig Gerüche. Dazu ein Holländer, der sich mit Handy und Kopfhörer vom Rest der Welt – der gerade aus mir besteht – getrennt hat. Kein Grund zum Verweilen, mutig beziehe ich eines der oberen Betten und folge den Schildern in Richtung Sauna.
Beim Öffnen der Tür strömt mir wohlige Wärme entgegen, ein gemütlicher Vorraum, Sofas an den Wänden, Tische davor, ein Stapel weißer Handtücher, ein Kühlschrank, Haken für die Kleidung und eine Glastür, die zur Sauna führt. Mehr braucht es nicht. Außer vielleicht einer Dusche und einer Toilette. Die Dusche ist schnell gefunden und genutzt. Die Toilette finde ich genauso schnell, nur benutzen mag ich sie nicht. Nicht weil sie nicht sauber wäre, das Haus und alles darin ist zwar alt aber makellos sauber. Die Lage ist es, die mich stört, das Pissoir steht vor der Sauna, genauer gesagt gleich vor deren Panoramafenster. Wenn man sich davorstellt, schaut man direkt hinein, zwei Männer und eine Frau sitzen entspannt auf den Saunabänken. Die Aussicht von drinnen mag ich mir gar nicht vorstellen. Hoffentlich baut dass im neuen Kiruna keiner nach.
In der Sauna werde ich auf Schwedisch mit großem Hallo begrüßt und halte eine kalte Dose Bier in der Hand, bevor ich verstehe, worum es geht. Die Schweden wechseln zu Englisch, als sie die Fragezeichen in meinen Augen erkennen. Es sind drei Geschwister und sie brauchen Hilfe bei ihrer Saunatradition. Dabei wird vor dem Saunagang der Aufgusseimer mit eiskaltem Wasser und einem Sixpack gefüllt. Die Regel ist so einfach wie streng: Keiner verlässt die Sauna, bevor die Dosen leer sind. Ich helfe gerne.
Als wir wieder im Vorraum ankommen sitzt dort die tätowierte Frau mit den drei Typen von der Bar. Es war nichts los, also haben sie zugesperrt und sind zum gemütlichen Teil des Abends übergegangen. Vor Ihnen steht ein Dutzend Weinflaschen, alle geöffnet und halbleer. Gestern war eine Gruppe dänischer Touristen zum Essen hier, erklären sie mir und es ist offensichtlich, dass die Beziehung der Schweden zu ihren dänischen Nachbarn kompliziert ist. So begründen sich auch die Weinflaschen. Die unverständlich nuschelnden Dänen aus ihrem lächerlich kleinen Land haben viel getrunken. Das schwedische Team des Restaurants dafür bereitwillig neue Flaschen geöffnet, reich sind sie ja die Dänen. Aber nicht trinkfest, gerade als die Stimmung bestens war, sind die Besucher in ihre Betten gekrochen. Ihre dicke Rechnung haben sie bezahlt, die Flaschen zurückgelassen. Der finale Beweis dass mit den Dänen irgendwas nicht stimmt. Aber deswegen ist es heute gemütlich.
Wir setzen wir uns dazu, Gläser und Flaschen werden herumgereicht und ich lausche dem Gespräch in Schwedisch. Nichts entspannt mehr als eine freundliche Unterhaltung in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Die einen tragen auch hier ihre Mützen, die anderen ein winziges Handtuch. Höflich wie sie sind, werde ich bald auf Englisch einbezogen. Ich frage nach den Mützen, ja das sei normal, sie immer zu tragen. Zum Beweis nimmt die Rezeptionistin ihren Beani ab. Ihre Haare sind nur an den Seiten rot. Oben zu färben lohnt sich nicht, das sieht unter der Mütze niemand.
Wir reden über den Umzug der Stadt, in zehn Jahren soll er abgeschlossen sein. Auch das Hostel steht nur noch hier, weil es zur Zeit kein Baumaterial gibt. Das neue Gebäude sollte bereits vor Monaten fertig sein. Jetzt leben sie von Tag zu Tag, nächsten Monat kann es soweit sein, oder im Sommer. Jedenfalls noch in diesem Jahr, die Ungewissheit nervt. Vier Menschen in der Runde sind in Kiruna geboren und möchten hierbleiben. Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust, der Umzug fällt schwer, doch sie wissen auch, dass es ohne das Eisenerz kein Kiruna geben würde. Wer im Tourismus arbeitet verdient nur halb so viel wie im Bergbau, also wechseln sie ab. Den Sommer in der Mine, den Winter im Hotel, ihre Freunde machen es genau andersrum.
Sie sind jung, da ist es okay, ihren Eltern fällt es schwerer. Dennoch haben sie Angst, denn die Bergbaugesellschaft hat sich vertan. Auch die neue Stadt könnte den Baggern anheimfallen, sie steht ebenfalls auf einem Erzflöz. Bis 2060 ist der neue Standort sicher, solange garantiert es die Erzfirma. Dann muss Kiruna abermals umziehen, vielleicht ja wieder zurück an den alten Platz, so träumen die jungen Nordländer. »Am besten packen wir die ganze Stadt auf Räder, damit wir sie hin und her schieben können.«, schlägt einer vor und hebt sein Weinglas, »dann kommen noch mehr dänische Touristen.«

Die Geschichte eines Moralisten: Teil 1 der Eifeltrilogie

»Gestatten, Eduard Pommerich, Oberlehrer im Ruhestand«

Das Schicksal hat mir einen Campervan, ein freies Wochenende und laues Frühlingswetter untergeschoben. Besser könnte ich auch bei der sprichwörtlichen Fee mit den drei Wünschen nicht wegkommen. Die Eifel ruft, und zwar nach einem Stellplatz fernab von jedem Campingplatz, ohne aufblasbaren Jägerzaun darf ich dort nicht nächtigen. An unrechtmäßigen einsamen Plätzen besteht jedoch kein Mangel, schon bald entdecke ich meinen Favoriten. Einzig der Hochsitz auf der anderen Seite des Tales stimmt mich anfangs skeptisch, stehe ich nicht genau in der Schusslinie? Andererseits passt ein Campervan nicht in das Beuteschema des deutschen Waidmanns, Großwildjagd ist was für Afrika. Und das sollte selbst in der Hocheifel bekannt sein.

Also bleibe ich, sitze ich in der Abendsonne vor meinem Camper und erfreue mich an Aussicht, orangefarbenen Linien, die Flugzeuge für mich in den Himmel malen, dem rhythmischen Klopfen eines Buntspechtes und der Lektüre meines Buchs in das ich vollkommen versinke. So lange, bis der Buntspecht schweigt und Herr Pommerich vor mir steht:

»Gestatten, Eduard Pommerich, Oberlehrer im Ruhestand«

Welch ein Satz! Der Mann muss sich direkt aus dem Museum vor mir materialisiert haben! Deswegen konnte er auch lautlos vor mir auftauchen. Jedes Wort ein Anachronismus, und die Erscheinung unterstützt das Bild. Herr Pommerich ist gut einen Meter und sechzig Zentimeter groß, einachtundfünfzig, wenn ich die karierte Schlägermütze auf seinem Kopf nicht mitzähle. Selbst sein Schatten hält sich kerzengerade und jedes Hautfältchen in seinem pensionierten Gesicht ist säuberlich rasiert. Begleitet wird er von einem, ebenfalls ergrauten, Rauhaardackel an einer neongelben Hundeleine.

»Guten Abend!«

Mein Gehirn ist viel zu beschäftigt, um eine intelligentere Antwort zu erdenken. Warum tragen pensionierte Lehrer immer Schlägermützen? Und woran erkennt ein Rauhaardackel, dass die Beute zur Strecke gebracht ist, wenn sein Herrchen nur einen Stock und ein scharfes Mundwerk besitzt? Wie lange wird seine linke Pfote noch auf mich zeigen? Währen ich noch nach Antworten suche, feuert der Oberlehrer bereits die nächste Ladung verbalen Schrotes ab:

»Dieser Wald ist Teil meines Dorfes!«

Das ist, wie ich finde, äußerst großzügig bemessen, denn das nächstgelegene Dorf ist mindestens drei Kilometer entfernt. Luftlinie! Eine göttliche Eingebung befiehlt mir, diesen Gedanken nicht auszusprechen. Stattdessen schaue ich nur dümmlich zwischen dem langsam ermattenden Hund und dem immer vitaler wirkenden Rentner hin und her.

»Eine Nächtigung an dieser Stelle befände sich in misslichem Konflikt mit einer Reihe von Vorschriften, die gleichwohl nützlich wie wichtig ich zu erachten die Pflicht besitze«

Wie bitte? Ich verstehe nur die Hälfte, aber eines verstehe ich: Die Situation wird langsam ungeschmeidig. Pommerich hat sich als Amtsperson etabliert (Oberlehrer!), ein Fehlverhalten postuliert (Wildcampen!), sein persönliches Interesse dokumentiert (»Mein« Dorf) und mich als Täter identifiziert.

Ich mag das Wildcampen ja als lässliche Sünde verstehen, aber der dramatischste Regelverstoß im Leben des Herrn Oberlehrers bestand bestenfalls daraus, am Karfreitag unbewusst eine Schlagermelodie gepfiffen zu haben. Vor fünfunddreißig Jahren, wenn überhaupt. Mir muss eine überzeugende Antwort einfallen, und zwar sofort, sonst eskaliert die Lage. Ich starte einen Versuch, vielleicht geht es mit Lokalpatriotismus:

»Wissen Sie, ich bin Romanautor und möchte die Landschaften authentisch erleben, bevor ich darüber schreibe!«

Weiter daneben hätte ich nicht liegen können, denn Pommerich setzt zu einer Tirade an, die selbst den Dackel dazu bringt die pflichtgemäße Beute (mich!) aus dem Auge zu verlieren und verwundert nach seinem Herrchen zu schauen. Der schwingt seinen Wanderstab durch die Luft, wie sintemals den Rohrstock über dem Hintern des Pennälers:

»Das kennen wir! Diese Möchtegernschriftsteller, kommen aus dem Moloch ihrer Städte, sehen das erste Mal seit Menschengedenken einen Bauernhof und glauben dann der Milchknecht sei ein Original. Am Ende stehen auf dünnem Papier noch viel dünnere Sätze und alle Eifler sind entweder ahnungslose Bezirkstrottel oder bringen sich gegenseitig um. Glauben sie mir: Hier gibt es keine Originale!«

»Mitnichten«, sollte ich antworten, »Thema verfehlt! Setzen! Sechs! Ich sprach von den Landschaften!« Sollte ich, mir gelingt jedoch nur ein beschämtes Grinsen, wie einem Sextaner ohne Hausaufgaben.

»Sie und ihresgleichen, das wird noch ein schlimmes Ende nehmen in diesen …, diesen Städten, aber eines kann ich ihnen sagen: nicht mit uns! Nicht hier! Solange ich noch …!«

Wenn ein altgedienter Dorflehrer nur noch unvollständige Sätze stammelt, dann ist die verbale Kommunikation beendet. Mir bleibt nur noch eine Wahl: die physische Überlegenheit. Selbst wenn ich auf seine einsachtundfünfzig die fünf Zentimeter der Schlägermütze und – sehr wohlmeinende – fünfzehn für den Dackel addiere, bin ich immer noch einen Kopf größer.
Dazu muss ich aber erstmal aufstehen und zuvor mein Buch aus der Hand legen. Zugegeben, gemeinhin packe ich Bücher einfach aufgeschlagen neben mich. Wenn es pressiert, knicke ich sogar mal eine Seitenecke. Meine Jahre auf der Schulbank waren nicht vollends vergebens, denn mir ist klar: Solch Frevel an einem Buch in Gegenwart des Oberlehrers Pommerich würde meinen endgültigen Garaus bedeuten. Also schiebe ich brav das Lesezeichen zwischen die Seiten, klappe mein Buch zu und lege es, gerade wie des Lehrers Rücken, auf den Tisch. Erst dann baue ich mich in ganzer Länge vor ihm auf.

Ich kenne genügend Eifelkrimis, um zu wissen, was jetzt geschieht. Obendrein hat Eduard mir den Plot ja auf dem goldenen Tablett serviert: Der Zeuge muss beseitigt werden, bevor er reden kann. Danach kann ich den Dackel grillen. Während ich meine Hand erhebe, meldet sich die Stimme des Zweifels in meinem Kopf: »Damit reitest du dich nur noch tiefer rein, am Ende kommt eh alles raus«. Recht hat sie, und Grillen im Dorfwald ist mit Sicherheit verboten. Spontan wähle ich die Waffe des Wortes, und da mir selbst nichts einfällt, zitiere ich aus dem gerade zugeschlagenen Buch:

“Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.”

Pommerichs Blick wechselt von Ärger zu Erstaunen und fällt auf den Buchrücken, der scheinbar unbeteiligt auf dem Tisch die Seiten umklammert. Der Mann vor mir verwandelt sich wie von Zauberhand: Ein Lächeln strahlt aus seinem Gesicht, die knochige Hand übergibt den Stock der Schwerkraft und selbst der Dackelschwanz beginnt, in treuer Ergebenheit zu wedeln:

»Sie lesen Kästner? Den Fabian? Aus freien Stücken? Das nenne ich große Literatur!«

so ruft er freudig aus und beginnt seinerseits zu deklamieren:

»Die Umstände sind ebenso gewöhnlich wie ungewöhnlich«.

Damit ist mein Regelverstoß ausgeglichen und befinden wir uns an einem Punkt der Einigkeit. Weitere folgen auf dem Fuß. Ein gut temperierter Riesling von der Mosel, den ich schleunigst offeriere, ist einer der nachhaltigsten.

Obendrein spült der Riesling auch die Toleranz des Herrn Pommerich zum Vorschein, großzügig akzeptiert er den Moselwein im Plastikbecher. Allein, nicht ohne den Hinweis, das ein kultivierter Wein – und als solcher sei der Riesling aus guter Mosellage zweifelsohne zu titulieren – bevorzugt in einem unprätentiösen Kelch grüner Farbe zu gustieren sei. Nun denn, irgendwoher muss der Unterschied zwischen Lehrer und Oberlehrer ja kommen.

»In einem aber, junger Freund, …«, so beginnt Pommerich seinen Abschied, als die Flasche zur Neige geht und er leicht schwankend vor mir steht: »In einem muss ich bei aller Freundschaft insistieren: Ihre Originale werden sie hier niemals finden!«
Ja, Nein, ist schon klar!

Volles Haus

Beschämt zur Seite blicken ist die Sache der Nepalesen nicht, hier ist das Zuschauen erlaubt, in jeder Situation. Und wer will es ihnen verdenken, in einem Ort, der keinen Fernseher kennt und der höchstens einmal im Jahr Touristen erblickt. Wenn der Tourist dann auch noch blond ist und fast doppelt so lang wie der größte Einheimische, dann begleiten ihn braune Augen auf allen Schritten.

Das ist nicht weiter schlimm, denn es gilt natürlich gleiches Recht für alle und auch ich schaue mir gerne die Menschen an. Obendrein ist auf einer Trekkingtour im Himalaya nicht viel zu verbergen. Jeder Tag folgt demselben Muster aus Laufen, Essen und Schlafen! Und danach das Gleiche wieder von vorne. Wer diese Entspannung noch nicht erlebt hat, dem erscheint die Regelmäßigkeit vielleicht monoton.

Allerdings gibt es dann doch den einen oder anderen Moment, den ich lieber ungestört verbringen möchte. So führen das regelmäßige Essen und die regelmäßige Bewegung auch zu einer sehr regelmäßigen Verdauung. Gleich am Morgen nach den unvermeidlichen Frühstückseiern fordert die Natur ihr Recht, so auch heute in einem kleinen Bergdorf.

Die aufmerksamen Nepali verstehen mein Bedürfnis sofort und leiten mich gemeinsam und nicht ohne etwas Stolz zum Toilettenhaus. Schlagartig verstehe ich, wie sich Gandalf auf Besuch bei den Hobbits fühlt. Das Bauwerk ist aus massivem Stein errichtet aber nur einen Meter fünfzig hoch. Ich bücke den Oberkörper durch die Tür und scheitere beim Versuch mich drinnen wieder aufzurichten am Dachbalken. Ein Nachteil der dicken Steinwände: der Innenraum ist noch viel kleiner als die Außenmaße vermuten ließen.

Immerhin kann ich derart gebückt bereits einen guten Blick auf die Sanitäreinrichtung werfen: sauber und eindeutig gehobener Standard. Eine Keramikkachel auf dem Boden umrahmt das obligatorische Loch und ein Wassereimer zur Linken mit einer Schöpfkelle aus Plastik vervollständigen das Inventar. Das Highlight der Ausstattung ist fließendes Wasser. Die Hütte steht strategisch klug neben einem Gebirgsbach und über ein kleines Rohr sprudelt das Wasser munter in eine Tonne. Die deutsche Industrienorm gilt hier nicht, sonst müsste die Wassertonne für jeden Zufluss auch einen Abfluss besitzen. So läuft der Eimer einfach über, und fungiert – da die Hütte leicht geneigt am Hang steht – als Spülkasten im Dauerbetrieb.

Das Problem: Bei meiner Körperbreite spült der Eimer nicht nur den Boden, sondern auch mich, sobald ich zwischen ihm und der Wand hocke. Heute Morgen jedoch habe ich Glück, der letzte Besucher hat ausgiebig Gebrauch von der Schöpfkelle gemacht und daher steht das Wasser noch deutlich unter dem Tonnenrand. Für geschätzte fünf Minuten wird der von mir angestrebte Platz über der Kachel noch trocken bleiben. Ein weiterer Grund mich schnell an das unvermeidliche Werk zu begeben.

Dazu müsste ich allerdings mein Hinterteil zur Kachel ausrichten, der Versuch scheitert jedoch ebenso wie zuvor das Aufrichten. Für eine Körperdrehung ist die Hütte schlicht und ergreifend zu eng. Ich brauche einen Neustart, verlasse die Hütte und versuche es aufs Neue, diesmal rückwärts. Dabei kann ich dann auch gleich einen Blick auf die inzwischen deutlich gewachsene Zahl an Zuschauern werfen. Sie sehen sehr zufrieden aus mit dem, was ihnen bisher geboten wird. Diesmal komme ich deutlich näher an das Ziel, auch wenn das Rückwärtsgehen in der tiefen Hocke nicht meine beste Disziplin ist.
In der angestrebten Position angekommen, stehe – oder besser gesagt hocke – ich allerdings vor dem nächsten Problem: meiner Hose. Die muss naturgemäß nach unten, doch zwischen dem engen Gemäuer, der dicken Daunenjacke und den angewinkelten Knien existiert für sie kein Weg. Ich muss wieder raus und einen dritten Anlauf versuchen, sehr zur Freude meiner Zuschauer.

Langsam wird die Zeit knapp und das nicht nur wegen des steigenden Wasserpegels in der Tonne. Um etwas Raum zu gewinnen, hänge ich die Daunenjacke außen an die Hütte und mache mich wieder daran rückwärts einzuparken. Diesmal im synchronen Rhythmus: Der Körper muss rückwärts in die Hütte gefaltet werden und die Hose gleichzeitig nach unten geschoben, Zentimeter für Zentimeter. Die Strategie ist erfolgreich und ich kann mich den Dingen widmen, für die ich gekommen bin.

Natürlich würde ich gerne vorher noch die Tür schließen, die aber geht nach innen auf, also muss sie offenbleiben. Man kann im Leben nicht alles haben und sollte auch nicht nur an sich selbst denken: Meine Zuschauer sehen der Fortsetzung des Programms gespannt entgegen. Ich würde deutlich mehr als einen Groschen für ihre Gedanken geben. Und auch ich kann am Ende von der offenen Tür profitieren, denn das Toilettenpapier befindet sich in der Tasche meiner Daunenjacke. Gut, das mein Kopf aus der Tür hinausschaut, so können meine Augen um Hilfe bitten. Ein mutiger Junge läuft vor und reicht mir die Jacke, so eben noch rechtzeitig, bevor die Wassertonne überläuft.

Das obere Paradies – Teil 1 der Sierratrilogie

Wir residieren im oberen Paradies. Das untere Paradies ist zugeschneit und das mittlere fest in den Händen der Maultierhirsche. Abgesehen davon: Paradies hin oder her, wer stellt schon sein Zelt in das Souterrain, wenn das Penthouse frei ist.
Die Sierra Nevada in Kalifornien ist in diesem Frühsommer zweigeteilt, die Luft sommerlich heiß und der Boden noch von tiefem Schnee bedeckt. Entsprechend anstrengend ist das Wandern, „potholing“, also Höhlensuchen nennen es die Amerikaner. Der weiche Schnee trägt nicht mehr, und selbst wenn der Wanderer keine Höhle findet, sinkt er bei jedem zweiten Schritt plötzlich bis zur Hüfte in den Schnee.

Dann beginnt der Befreiungsversuch, mit Trekkingstöcken in der Hand und schwerem Gepäck auf dem Rücken, entscheidend ist die Wahl der Technik. In der Manier eines Ninjakämpfers, seitwärts abrollen und dann versuchen die Füße aus dem Loch zu ziehen? Nach der Kuhmethode – das Gesicht in den Schnee und mit dem Kopf als Gegenwicht den Hintern hochschieben? Oder aber wie ein Maikäfer auf dem Rücken. Darin bestehen im Wesentlichen die Optionen und in zwei Dingen unterscheiden sie sich nicht: Alle treiben reichlich Schweiß und definieren das Gegenteil von elegant.

Also beenden wir die Wanderung beizeiten, unsere Ausrüstung und wir selbst sollen noch in der Abendsonne trocknen. Der Zeltplatz mit dem paradiesischen Namen ist auch zu schön, um daran vorbeizugehen. Sogar trockenes Feuerholz liegt in einer hohlen Baumwurzel bereit und schnell hilft ein Lagerfeuer der Sonne bei der Arbeit. Andere Menschen leben nicht in diesem Paradies, vielleicht existiert ja für jeden ein eigenes.

Bisher dachte ich immer, Kolibris seien Vegetarier, die freundlich an Blumen nuckeln. Aber weit gefehlt, im Blütennektar ist zwar reichlich Zucker, aber wenig Eiweiß. Deshalb kommen Mücken auf den Speisezettel und daran mangelt es im Paradies nicht. Harry Potter kommt mir in den Sinn: Wie der goldene Schnatz im Quidditch zischt der Kolibri über mir durch den Abendhimmel. Ich wünsche ihm viel Erfolg, denn jede gefressene Mücke bedeutet einen Stich weniger für mich.

Plötzlich verschwindet der Kolibri, während sich etwas Großes in mein Blickfeld schiebt. Ein Schwarzbär hat unser Lager entdeckt und eilt quer durch den Steilhang auf uns zu. Warum tauchen die Bären immer dann auf, wenn ich keine Schuhe trage? Stehen Bären auf Schweißgeruch? Mir bleibt aber keine Zeit den Gedanken zu vertiefen, denn das Tier steht bereits groß und hungrig vor uns. Auch für die Schuhe fehlt die Muße, barfuß eile ich zum Feuer, werfe reichlich Brennholz nach und greife mir einen brennenden Ast.

So stehen wir uns gegenüber, ich mit einem qualmenden Stock in der Hand und der Bär auf seinen Hinterbeinen. Damit ist dann auch die Anrede geklärt, es handelt sich eindeutig um ein männliches Exemplar. Zum Glück hängt unser Proviant bereits meterhoch an einem Baum in sicherer Entfernung und Menschen stehen nicht auf dem Speisezettel von Schwarzbären. Andererseits: Das dachte ich bis vor wenigen Minuten auch von Mücken und Kolibris.

Kurz treffen sich unsere Augen, dann erinnere ich mich an die Regeln, löse den Augenkontakt und senke den Blick. Was ist das? Das imposante Tier wird plötzlich kleiner. Immer noch regt sich keiner von uns, aber Zentimeter um Zentimeter schrumpft mein Gegenüber. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen, die Gesetze der Physik machen vor niemandem Halt. Dem Bären geht es genauso wie mir zuvor, er steht auf dem Schnee und mit seinem gesamten Gewicht auf zwei Beinen. Die unvermeidliche Konsequenz: Auch er wird von der Schwerkraft auf „Höhlensuche“ geschickt.

Das scheint ihm dann doch unter seiner Würde und – ganz im Gegensatz zu mir – springt er elegant aus dem Loch. Er trollt sich einige Meter abwärts zum Gebirgsbach und beginnt mit der Pfote im Wasser zu rühren. Hoffentlich ist der Bär katholisch, denn heute ist Freitag und der Bach voller kleiner Forellen. Die springen dann auch sofort in heller Aufregung in die Luft, doch auch ihr Stündchen hat noch nicht geschlagen. Meister Petz beschließt, dass diese Forellen erst noch etwas wachsen müssen, bevor sie zum Freitagsmahl taugen. Er verschwindet so schnell, wie er aufgetaucht ist und es herrscht wieder Ruhe im oberen Paradies.

Die pedantische Packliste

Auch ein guter Kunde ist dem Verkäufer nicht immer gute Kunde. „Das ist doch nicht durchdacht, die Stirnlampe benötigt drei Batterien, kaufen muss ich die im Viererpack und dann bleibt eine übrig!“ Der Verkäufer bleibt erstaunlich gelassen und fährt einfach fort die Vorzüge des Produkts für die Anwendung im Himalaya zu beschreiben: gutes Licht, zuverlässig, geringer Stromverbrauch und auch bei niedrigen Temperaturen und mit Handschuhen leicht zu bedienen. „Aber das Gehäuse ist aus Plastik, wenn es zu nah an die Flamme des Kochers kommt, haben sie nicht etwas aus Metall, das aber genauso leicht ist?“ Der Verkäufer blickt hilfesuchend in die Runde und seine rollenden Pupillen treffen auf meine. Außer einem mitleidigen Blick kann ich ihm aber keine Hilfe schenken.

Wir stehen im größten Outdoorladen Kölns und der Kunde, ein Endvierziger vom Typ notorischer Pedant, ist offenbar gewillt Geld auszugeben. Er sammelt die komplette Ausrüstung für seine Expedition nach Nepal, von der Wandersocke bis zum Eispickel. Die Packliste in seiner Hand verrät mir: er wird sich an das Luxustrekking rund um die Annapurna wagen. Lodgeübernachtung mit Wärmflasche und Rundum-Sorglos Betreuung von Hauser inklusive, quasi Mercedes S-Klasse mit eingebauter Vorfahrt. Für einen kurzen Moment bin ich verwirrt, denn der Papierstapel in seiner Hand ist mindestens zweihundert Seiten dick, doch dann verstehe ich: drei Seiten für die eigentliche Liste und der Rest für Produktbesprechungen aus dem Internet, von seiner Sekretärin fein säuberlich gedruckt und sortiert. Der Mann besitzt mit Abstand mehr Geld als gesunden Menschenverstand.

So verwundert es mich nicht, dass alle Verkäufer vor seinem suchenden Blick hinter dem nächstgelegenen Berg aus Daunenjacken verschwinden und dort ungemein beschäftigt sind. Schlagartig wird mir klar, warum es selten großgewachsene Verkäufer gibt. Allein mein Kopf ragt hinter den Jacken hervor, und so geschieht das Unvermeidliche: „Hier ist gerade keiner! Die haben aber sowieso wenig Ahnung, können sie mir helfen?“ Es macht wenig Sinn ihm zu erklären, warum ihm nicht mehr zu helfen ist.

In seinen Händen baumeln zwei Regenjacken, eine in dezentem Blau, die andere in Baustellengelb; beide mit einem Preisschild das eher zu einem Gebrauchtwagen passt. „Soll ich die mit der dreifachen Membran nehmen oder die mit der den doppelt verdichteten Reisverschlüssen aus Titan, die eine funktioniert nicht, wenn es kalt regnet, die andere versagt in feuchter Wärme?“ Immer positiv denken, schießt mir durch den Kopf, eine Kernkompetenz des Buddhismus. Entsprechend fällt meine Antwort aus: „Ich würde die Gelbe empfehlen, dann findet Dich auch der Rettungshubschrauber.“ Hektisch blättert der angehende Extrembergsteiger durch seine Zettel und findet darin auch die Lösung: „Dafür habe ich Leuchtstäbe, eine reflektierende Kältedecke, ein Satellitentelefon und ultraleichte Nebelkerzen im Gepäck. Die Nebelkerzen waren optional, aber mein Sherpa wird zwanzig Kilo für mich tragen, da ist noch ein gutes Kilo Platz“. Dieser Typ startet auch sein Auto erst, wenn das zulässige Gesamtgewicht erreicht ist. Mögen die Berge und der Buddhismus ihm etwas Gelassenheit schenken und sein Sherpa in der Nähe sein falls ihm doch etwas zustoßen sollte.

An der Kasse treffe ich ihn dann wieder, der Gesamtschaden übersteigt noch den Preis der S-Klasse Reise mit Hauser, aber er verhandelt um jeden Pfennig Rabatt. „Und sie führen wirklich keine Batterien im Dreierpack? Das müssten sie doch anbieten, wenn ihre Lampen drei Batterien brauchen?“ Linda, die Kassiererin kann nicht fliehen, stopft die ganze Ausrüstung schleunigst in gigantische orange Plastiktüten und ignoriert die Frage. „Haben sie noch ein paar Stifte für mich? Sie wissen schon, als Geschenk für die Kinder am Weg, Süßigkeiten sind ja schlecht für die Zähne und wie sagt man so schön: wer schreibt, der bleibt“. Mit einem gequälten Lächeln und letzter Anstrengung schiebt Linda noch eine Handvoll Kugelschreiber in eine der Tüten. „Funktionieren die auch in großer Höhe? Ich gehe doch zum Bergsteigen in das Himalaya.“ Linda ist zu keiner Antwort mehr fähig.

Beladen mit seiner reichen Beute und verfolgt von erleichterten Blicken der Verkäufer marschiert unser Freund in Richtung Ausgang. Dabei stößt er mit Chandra zusammen, einem Verkäufer der in der Tat aus Nepal stammt und der die warnenden Handzeichen seiner Kollegen offensichtlich als Hilferuf gedeutet hat. „Herr Sherpa, gut dass ich sie treffe!“ Immerhin, die erste Begegnung mit einem Nepali führt auch gleich zur ersten positiven Aussage, das scheint auf einem guten Weg. Ob die Freude gegenseitig ist bleibt offen, denn Chandra versteckt seine Emotionen hinter dem asiatischen Pokerface, einem breiten Lächeln und sagt nur „Thik chha“. Das heißt „alles in Ordnung“ und bedeutet es auch, wenn es denn nicht genau das Gegenteil meint.

Der Einkauf fällt zu Boden und unser Pedant breitet seine Beute vor dem immer noch lächelnden Chandra aus. Eispickel, Signalraketen, GPS-Gerät, Schlafsack, Trillerpfeife und die ganze restliche Packliste inkarnieren aus den Tüten. Dann schaut er erwartungsvoll zu Chandra: „Meine Frage an sie als den Experten: Habe ich alles, was nötig ist?“
„Schön, dass sie mein Land besuchen wollen, und danke, dass sie mich um Rat bitten. Aus meiner Sicht: Das sind alles schöne Dinge die sie gekauft haben. Sehr schöne Dinge. Aber wirklich nötig ist nichts davon, … eine Sonnencreme würde ich allerdings empfehlen“

Reisen in Indien: Bus oder Bahn Teil 1

Die Gretchenfrage des Indienreisendes: Wer das Land in all seiner Lautstärke erleben möchte, der muss sowohl das Flugzeug als auch das klimatisierte Auto mitsamt Fahrer verlassen und auf Bus oder Bahn umsteigen. Was denn nun? Bus oder Bahn? Die Antwort ist schnell gefunden: beides! Jedes dieser Fortbewegungsmittel ist einzigartig und bietet ungeahnte Möglichkeiten das Leben einzutauchen.

 
Fangen wir mit den Bussen an, die zwei wesentliche Vorteile ihr Eigen nennen: Sie fahren fast überall und es ist vergleichsweise einfach an einen Fahrschein zu gelangen, zumindest für denjenigen, der bereit ist, einen höheren Touristenpreis dafür zu zahlen.  Wer auf dem Normalpreis besteht, kennt am besten einen vertrauenswürdigen Inder oder besitzt die Zeit und das Geschick zu langen Verhandlungen. Wenn allerdings der letzte Bus des Tages laut hupend auf die Abfahrt drängt und aus allen seinen Öffnungen Köpfe und Gepäck ragen, dann ist die Verhandlungsposition schwierig. Also geben wir auf und bezahlen das Doppelte des Üblichen. Es ist immer noch deutlich günstiger als eine Fahrt mit der S-Bahn von Köln nach Düsseldorf und mit dem Fahrscheinautomaten in Deutschland feilsche ich auch nicht um einen Euro.

 
Dem Kauf der Fahrkarte folgt das Einsteigen in den Bus und schlagartig wird mir klar, warum die Inder das Yoga erfinden mussten, sie wollten einfach auf ihren Platz im Bus! Wer nicht stabil auf einem Bein stehen kann, während er kräftig an der Schulter gezogen wird und dabei mindestens ein Bein über den Kopf hinaus zu strecken, wird keinen Sitzplatz ergattern. Wir stehen allerdings noch vor einem zusätzlichen Problem: Im Bus sind keine Plätze frei. Der Schaffner weist uns – wohl ob des von uns bezahlten höheren Preises – zwei Liegeplätze direkt hinter dem Busfahrer zu. Sie befinden sich ungefähr da, wo normalerweise das Gepäcknetz angebracht ist. Die beiden Inder die dort lagen, weichen auf die erste Sitzreihe aus, was wiederum die dort sitzende Familie auf die zweite Reihe verdrängt. Nach irgendeiner unverständlichen Regel verläuft diese Reise nach Jerusalem durch den Bus, mit dem unerklärlichen Ergebnis, das am Ende wieder alle einen Platz besitzen.

 
Währenddessen sind wir bereits losgefahren und bewegen uns auf einer einspurigen Straße Richtung Süden durch die Wüste, außer einem gelegentlichen Kamel ist nur Sand in Sicht. Die Straße ist allerdings durchaus befahren. Sobald ein entgegenkommendes Fahrzeug sichtbar ist, beginnt für unseren Busfahrer der interessante Teil der Arbeit. Zunächst gilt es, auf sich und seinen Bus aufmerksam zu machen. Er legt eine Hand auf die Mitte des Lenkrades und drückt auf die Hupe. Die andere Hand wandert zum Lichthebel neben dem Lenkrad und reißt diesen so schnell er kann vor und zurück.  Die hektische Lichthupe zusammen mit dem Dauerhorn zwingt das entgegenkommende Fahrzeug an den äußersten linken Rand der Asphaltpiste. Da der andere Fahrer genau den gleichen Zauber veranstaltet, bewegen wir uns auch zur linken Fahrbahnkante. Allerdings wird die Fahrbahn dadurch auch nicht geräumiger, so dass die beiden Piloten sich weiterhin auf Kollisionskurs bewegen.

 
Aber es muss einen Plan geben, um den frontalen Crash zu verhindern, denn der Schaffner klappt noch geschwind den Außenspiegel ein. Genau in dem Moment in dem der Zusammenstoß unvermeidlich ist, lassen beide Fahrer die Hupen los, greifen entschlossen wieder das Lenkrad und verlassen in einem kleinen Bogen nach links die Fahrbahn. Der Bus beginnt umzufallen, aufgrund der hohen Geschwindigkeit bleibt ihm dafür aber nicht genügend Zeit. Bevor er sich entschließen kann, finden wir uns auf der Fahrbahn wieder und setzen die Fahrt fort als sei nichts geschehen. So wird einer nach dem anderen der Gegenverkehr umfahren, unter Einsatz aller Steuerungsmittel die dem Fahrer zur Verfügung stehen, mit Ausnahme der Bremse.

 
Nach einigen Stunden habe ich mich an das Schauspiel gewöhnt, zumal mich allmählich ein anderes Problem plagt. Wer in der Wüste leben will, muss viel trinken, an diese Regel habe ich mich gehalten, sehr zu meinem Leidwesen. Gibt es Yogaübungen um die Blase zu erweitern? Irgendeinen Trick müssen die Inder jedenfalls besitzen, denn wir fahren schon seit vier Stunden ungebremst durch die Landschaft. Der Leidensdrang wird zu groß und ich beginne, mich aus dem überdimensionalen Gepäcknetz zu schälen und nach unten zu klettern. Entweder erkennt der Fahrer meine Not im Rückspiegel, oder es ist Zufall: kaum habe ich den Boden berührt bringt er zum ersten Mal die Bremse zum Einsatz und hält an. Ich bin doppelt erleichtert: Weil ich nicht in den Bus pinkeln muss und weil ich jetzt weiß, dass die Bremse funktioniert.

 
Nun springen alle auf und jeder drängelt – mehr oder weniger yogisch – zum Ausgang Mir wird bewusst, dass hier in Indien Drängeln und Rücksicht keineswegs einen Widerspruch darstellen. Gleichzeitig bin ich beruhigt, auch Inder besitzen eine endlich große Blase. Mein vorzeitiges Aufstehen verschafft mir einen veritablen Vorsprung und ich bin als einer der ersten vor dem Bus. Draußen trifft mich die Hitze und… sonst nichts. Weit und breit ist nur Wüste, wer dem Ruf der Natur folgen will muss dafür in die Natur gehen. Es gibt nur eine Regel, Frauen links und Männer rechts. Da wo ich stand werden jedenfalls in den nächsten zweieinhalb Jahren keine wüstentypischen Verhältnisse mehr herrschen.

 

Fünf Stunden später ist die Fahrt beendet als auf wundersame Weise der Bus und unser Gastgeber am Zielort zusammentreffen. Freudig verlassen wir den Bus, froh über das Erlebnis einer Busfahrt in Indien und froh, dass sie glücklich vorüber ist.

Kulturexport

Mein Schreiben soll nicht die Welt verändern! Zumeist ist das eigene Vergnügen daran genügender Antrieb. Heute jedoch kann ich nicht anders, als einen Aufruf zu starten, der hoffentlich weltweite Wirkung zeitigt, trotzdem es – wie immer – um eine kleine Geschichte von kleinen Dingen geht.

Welche kulturelle Leistung der Deutschen wird im Ausland sträflich vernachlässigt? Nein, ich rede nicht vom Oktoberfest, das wird in nahezu jedem Land der Erde häufiger gefeiert als in München. Auch die großen Dichter und Denker sind außerhalb unserer Heimat oft präsenter. Viele Deutsche müssen sich auf dem Theaterplatz in Weimar von einem japanischen Touristen erklären lassen, dass es sich bei den beiden Männern des Denkmals nicht um die Gebrüder Grimm handelt. Auch deutsche Ingenieurskunst ist weltweit bekannt und selbst dunkles Körnerbrot duftet im Siegeszug rund um den Globus. Allein einer Errungenschaft unserer Kultur bleibt die globale Anerkennung bisher verwehrt: dem Eierbecher.

Mancher mag seine besondere Bedeutung noch gar nicht erkannt haben, aber wir wissen Wichtiges ja erst dann zu schätzen, wenn es nicht mehr vorhanden ist: Licht, Freunde, Toilettenpapier. So ergeht es auch dem Eierbecher. Wer ihn nie vermisst hat, der ist noch nicht verreist. In Österreich ist er zuweilen noch zu finden, aber spätestens, wenn in der Schweiz die deutsche Sprache verschwindet, verabschiedet sich auch der Becher; gruß- und ersatzlos. Und auf jeder Reise, in jedem Land falle ich wieder darauf herein. Die Frühstückseier wandern in das kochende Wasser und genau fünf Minuten später bricht Panik aus.

Die Ferienwohnung oder Hostelküche ist mit jeden nur erdenklichen Komfort versehen, allein es fehlen die Eierbecher. Startschuss für die hektische Suche nach einem Ersatz. In Spanien finde ich dann meist ein etwas zu klein geratenes Weinglas und in Italien muss eine Espressotasse herhalten. Die Rettung in Frankreich erschien mir schon in Gestalt eines Schneckentellers, zum Glück sind dort ja auch Wachteleier weit verbreitet. Da in den USA bekanntlich alles größer ist, greife ich zur Muffinform.

Ansonsten ist guter Rat teuer, oft bleibt nur der Griff zur bereits erwähnten deutschen Ingenieurskunst. Aus Hotelservietten lässt sich mit etwas Geschick ein recht stabiles Papierschiffchen falten. Und das Ganze, während ich das abgeschreckte Ei auf einem Löffel balanziere. Eine wacklige Geschichte und ein mehr als dürftiger Ersatz. Obendrein wird die Freude am weichen Ei mit ziemlicher Sicherheit von reichlich Kleckerei begleitet werden.

Warum das Verbreitungsgebiet der Becher so begrenzt ist, habe ich nie verstanden. Aber zum Glück existieren inzwischen die sozialen Netzwerke und präsentieren uns die offensichtliche Lösung. Kein Vermieter und kein Hotelier auf dieser Welt, der ohne hervorragende Bewertungen auf diesen Netzwerken noch mit Gästen rechnen kann.

Wenn wir gemeinsam arbeiten und jeden fehlenden Becher konsequent mit Punktabzug bei booking.com und Tripadvisor abstrafen, dann wird sich die Welt unseren Wünschen nicht lange entziehen können. Zunächst werden Quartiere ohne Eierbecher aus dem Internet verschwinden und wenig später aus unserem Leben, denn dem Hotelier ohne Eierbecher stehen nur zwei Wege offen. Der Weg in die Insolvenz oder der in die Haushaltswarenabteilung. Falls es aber auch dort keine Becher zu kaufen gibt? Dafür wurde der Versandhandel erfunden und die Internetseite http://www.eierbecher.de ist noch verfügbar.