Mittwochnachmittag

Der erste Tag des zweiten Corona „Shutdowns“ und ich stehe allein auf weiter Flur. Oder auch nicht, denn ich stehe mitten in der Großstadt, nur fühlt sich die so an wie weite Flur. Alles geschlossen und kaum eine Menschenseele zu sehen. Ich krame tief in meinem Gedächtnis, das Gefühl, das sich in mir breitmacht, kenne ich irgendwoher? Sicherlich vom Frühsommer dieses Jahres, von dem ich mich nicht entscheiden kann, ob es ein merkwürdiges oder denkwürdiges ist.

Im ersten Shutdown sah es hier ähnlich aus, aber meine Erinnerung stammt nicht dorther, sie ist viel älter und tiefer vergraben. Ich wühle in den alten Gedanken aber immer, wenn ich eine kleine Ecke der Erinnerung erwische, huscht sie weg und wirbelt dabei so viel Staub auf, dass mein Gehirn niesen müsste, wenn es das denn könnte. Niesen ist sowieso schlecht heutzutage, wenn überhaupt dann in die Armbeuge und das kann ein Gehirn schon gar nicht. Also benutze ich den ältesten Trick, um einen verlorenen Gedanken einzufangen: An etwas anderes denken. Wenn er sich unbeobachtet und sicher fühlt, dann kommt er von selbst wieder. Gedanken sind, so folgere ich, neugierige Gesellen, sonst würden sie das nicht tun. Also ist Neugier und Denken das Gleiche?

Ich merke, dass meine eigenen Gedanken abgeschweift sind, „das war der Plan“ denke ich und drehe mich (natürlich nur im Kopf) ganz schnell um: „Woher kam nochmal das Gefühl, das mich an die leere Großstadt erinnert?“, frage ich die Ecke meines Gehirns, die für interne Altertumsforschung zuständig ist. Immer noch kommt als Antwort nur ein Behördenbrief zurück, viele Andeutungen, keine Lösung und am Ende der Satz: „Wir glauben fest daran die Antwort zu kennen und werden die Suche danach mit großer Vehemenz vorantreiben!“ Langsam werde ich sauer, vielleicht ordne ich demnächst einen Shutdown für Gehirne an, was würde passieren? Wahrscheinlich nur, dass der Bundesgerichtshof die Maßnahme als unverhältnismäßig einstuft, weil sie großen Teilen der Bevölkerung keinen nennenswerten Effekt bewirkt.

Zu meiner Erinnerung würde mich das auch nicht führen, also verwerfe ich die Idee, wende mich mental wieder ab und versuche mehr Abstand zu gewinnen. Zu viel Abstand darf es aber auch nicht sein, sonst kommt die Erinnerung aus ihrem Versteck, du siehst sie gerade nicht und sie verschwindet in ein neues Loch. Dann geht das Spiel von vorne los, nur dass jetzt eine Schicht mehr darüber liegt. Es ist wie bei den russischen Matrjoschka-Puppen, beim nächsten Mal ist eine Puppe mehr darüber gestülpt. Das Erinnern erfordert Muße, sonst entstehen große Holzpuppen mit wenig Inhalt.

Meine Rettung erscheint in Form einer Fußgängerampel. So ausgestorben wie die Neusser Straße auch ist, Autos fahren darauf so viele wie sonst auch. Ich habe zwar keine Ahnung wo die Menschen in den Autos herkommen und erst recht keine Ahnung davon wo sie hinwollen, aber wenn alle systemrelevant sind, dann kann es an Krankenschwestern und -pflegern nicht mangeln. Jedenfalls erfordert das Überqueren der Straße meine volle Aufmerksamkeit. Ich bin voll darauf konzentriert, ob das grüne Männchen welches die Blechhorde im Zaum hält auch wirklich solange grün bleibt, bis ich ihr Revier auf der anderen Seite der Straße wieder verlassen kann.

Die volle Konzentration auf das grüne Männchen ist der Köder, dem die Erinnerung nicht widerstehen kann. Genau in der Straßenmitte kommt sie heraus, meine Falle schnappt zu und ich bleibe vom Geistesblitz getroffen stehen. Die Matrjoschka-Puppen! Sie waren früher jedes Jahr in dem Paket, das uns die Verwandtschaft aus der Zone so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk kurz vor Weihnachten schickte. Zusammen mit dem Christstollen und der Schallplatte vom Weihnachtsoratorium mit dem Dresdner Kreuzchor. Der Stollen war spätestens im März aufgegessen, die Platten und die Puppen sammelten sich im Schrank.

Die russisch anmutenden Holzpuppen führen meine Gedanken zurück in das kleine Dorf meiner Kindheit, in dem Moment wo das Dorf besonders still war. Sicherlich, solche Dörfer sind immer still, das ist ihr Wesen. Aber in manchen Augenblicken sind sie besonders still und verlassen, oder waren es zumindest in den Siebzigern. Damals besaß ein solches Dorf noch Läden und Geschäfte und genau diese waren mit großer Zuverlässigkeit an jedem Mittwochnachmittag geschlossen. Das war sie, die Stimmung, die mich aus der Vergangenheit eingeholt hatte: alles dicht, keine Menschen weit und breit und nichts zu tun.

Es ist eine wunderbare Erinnerung, genau die richtige Mischung aus bitter und süß. Bitter, weil ich immer genau am Mittwochnachmittag etwas brauchte: Eis, Sammelbilder oder ein neues Buch aus der Bücherei. Doch egal wie viel Taschengeld in meiner Hosentasche brannte, es war zu nichts nütze. Aber auch süß, weil der wiederkehrende Shutdown am Mittwochnachmittag auch Freiheit gab. Freiheit für neue Ideen: Baumhäuser, Frösche, Wasser und Wald; alles geöffnet. Sicherlich kamen wir auch auf schlechte Ideen, wenn ich ganz ehrlich nachzähle, waren das vermutlich die meisten, manche davon wirklich schlecht. Aber immerhin waren die Ideen neu und es waren auch gute darunter.

Was ich mir merke: Ein Shutdown kann mir nichts anhaben, das habe ich früh genug trainiert. Und weniger Möglichkeiten fördern das Neue. Ich lege die entstaubte Erinnerung vorsichtig wieder zurück und wende mich wieder der Gegenwart zu. Immer noch stehe ich mitten auf der Neusser Straße, das Ampelmännchen strahlt allerdings derweil in leuchtendem Rot und mein Schienbein steht direkt vor der Stoßstange eines Autos. Dessen Fahrer hat offensichtlich geduldig darauf gewartet, dass ich mich zu Ende erinnere. Stimmt, einfach mal etwas langsamer sein schadet auch nicht. Wir lächeln uns kurz zu und ich räume für ihn die Straße. Heute ist übrigens Mittwoch.

Auf dem Wochenmarkt in Coronia

Heute ist alles anders. Fast alles. Der Fischhändler ist gut gelaunt wie immer, aber die berühmte Schlange vor seinem Stand ist nicht mehr zu erkennen. An normalen Tagen steht sie immer vor seinem Stand, diese Schlange in Form einer Traube. Aber Menschentrauben, das hat inzwischen auch fast jeder Kölner verstanden, sind gerade nicht angesagt. Der Fischhändler hat vorgesorgt und vor seinem Wagen Herzen aus Kreide aufgemalt, im Abstand von zwei Metern. Damit hat er den üblichen Pulk in eine Reihe seziert, die von Lücken dominiert ist. Mein Herz schlägt vor Freude einmal zusätzlich, so lassen sich die Menschen viel leichter zählen.
Die Neuankommenden sondieren die Lage, ihr Blick fällt vom Fischstand zu den stehenden Menschen, erkennen die Kreideherzen und langsam auch das Prinzip. Sorgsam auf Abstand bedacht bewegen sich die Kunden in Richtung des Schlangenendes, über die Straße hinweg und bis in die dahinterliegende Allee. Zwischendurch steckt auch der Fischverkäufer den Kopf heraus und lobt die Wartenden: „Immer Abstand halten, ihr macht das prima“. Dabei fällt ihm auf, dass er zu wenig Herzen gemalt hat und er ermuntert zwei Kinder ihm neue zu malen. Einen Sahnehering als Belohnung lehnen die beiden ab, nicht alles ändert sich. Ob sie denn ein Stück Käse nehmen würden? Passt für die Kleinen, er schreit die Bestellung zur Käsehändlerin hinüber, die bestätigt, gibt es. Aber erst gleich, wenn der Stand frei ist und verpackt; wegen der Hygiene.
Der größte Vorteil der Schlangen mit zwei Metern Mindestabstand: Man verpasst keine Unterhaltung mehr. Etwa in der Mitte der Fischschlange steht eine junge Frau mit einer großen Packung Toilettenpapier, eifrig darum bemüht das was völlig normal ist auch jetzt normal aussehen zu lassen. Sie macht das recht gut, es kann aber hier im Rheinland nicht funktionieren. Von hinten kommen die ersten Kommentare: „Lasst die Frau mit dem Klopapier vor, die hat Not“. Ihre Reaktion dann prächtig offensiv: „Ihr könnt vor, ICH habe das Wichtigste schon!“.
Dann wird es ernst, als ein älterer Mann – knapp sechzig – sie fragt, wo denn das Papier her sei und ob es da noch was gäbe? Nein lautet die Antwort, erst am Nachmittag rechne der Aldi mit Nachschub. Die glückliche Papierbesitzerin ist aber gerne bereit zu teilen. Das wiederum hält der Alte nicht für nötig, er hätte noch sechs Rollen zu Hause, nächste Woche vielleicht. Daraus ergibt sich die Frage an die Schlange: „Wer braucht noch was?“. Vor meinem geistigen Auge fliegen schon die Rollen durch die Luft, zwei Meter Abstand sind oberstes Gebot, auch und gerade beim Klopapier. Aber alle winken ab und geben kurz den Bestand durch: „vier Pakete für zwei Personen“, „acht Pakete, aber nur zweilagig“, „genug solange keiner Dünnschiss hat“, „was soll der Quatsch, ich will Fisch“. Anscheinend ist der Bedarf gedeckt.
Derweil stehe ich in der Käseschlange. Die Käsehändlerin hat keine Kreideherzen, dafür – wie immer – eine deutliche Ansprache und ein hartes Regiment. Funktioniert auch, ihre Schlange ist nicht so lustig aber ebenso abständig. Jeder nach seinen Fähigkeiten. Als ich drankomme, liegen die Käsestücke in der Auslage fast so weit auseinander wie die Menschen stehen. Die Händler können sich keine große Vorratshaltung leisten. Trotzdem gibt es noch fast alles, selbst Handkäs mit Musik – in schwierigen Zeiten denkt jeder an die Heimat – gibt es noch. Gerade noch, die Käsehüterin packt mir die beiden letzten Stücke ein. Bereits im Weggehen höre ich die nächste Kundin dann ebenfalls nach Handkäse fragen. Negative Antwort von der Käsefrau, der junge Mann – sie meinte mich- hätte die letzten Stücke gekauft. Ich halte ein, wenn andere Toilettenpapier abgeben, kann ich ja wohl auch Handkäse teilen. Insbesondere weil die Kundin jetzt erklärt, dass sie den Handkäse für den Josef kaufen sollte, der dürfte ja jetzt nicht raus wegen seines Asthmas. Das ändert aber die Lage, denn der Handkäse für Josef liegt bereits abgepackt unter dem Tresen, wie jeden Freitag. Alles wird gut.
Meine Wochenendeinkäufe sind getätigt. Auch ich habe mehr gekauft als sonst, zehn anstatt sechs Eier, ein ganzes statt einem halben Brot. Schwer beladen laufe ich zu meinem Fahrrad, doch zwischen mir und dem geparkten Drahtesel liegt ein Problem: Die Fischschlange. Genau vor dem Rad haben die Kinder ein Draufstehherz gemalt. Mein Blick wandert zwischen dem Wartenden und dem Fahrrad hin und her. Der Mann auf dem Kreideherz erkennt meine Not – irgendwie nehmen wir uns als Menschen besser wahr, seitdem wir Abstand wahren. Aber das ist nur einer der vielen Widersprüche, die ich im Moment mit Überraschung lerne.
Jedenfalls erkennt er meine Not und bewegt sich ganz langsam nach hinten, und alle Nachstehenden tun das Gleiche. Polonaise rückwärts, ohne Anfassen, etwas ganz Neues, aber das Grundmuster kennt hier in Köln ein jeder. Für mich entsteht ein mindestens zwei Meter breiter Korridor zum Fahrrad, alles prima, ich kann ausparken. Für einen Moment überlege ich, die Schlange noch etwas tanzen zu lassen, indem ich noch einige Male ein- und dann wieder ausparke. Aber wirklich nur für einen Moment und nur für mich. Kopfkino ist das Gebot der Stunde und immer schön.

 

Anmerkung (bevor jemand Fake News generiert): Dies ist ein literarischer Blog, sprich nicht alles was beschrieben wird hat sich auch genau so, an diesem Ort und zu dieser Zeit abgespielt. Fest steht aber: Kunden und Betreiber haben sich auf diesem Markt vorbildlich verhalten, weiter so!)  

Cowboy und Indianer

„Können sie dafür Sorge tragen, dass ihr Kind sich nicht als Indianer oder Scheich verkleidet, wir wollen Kostüme die keine Stereotype wie Geschlecht, Hautfarbe und Kultur bedienen“, so bat eine Kita in Hamburg ihre Eltern. Da könnte der Rheinländer natürlich sofort in die Falle der Vorurteile tappen, indem er antwortet: Hamburger und Karneval, das ist wie Heringe und Bergsteigen! Alleine schon den Karneval in einem Atemzug mit Sorgen zu nennen. Aber kultursensibel und weltoffen wie es unsere Art ist, denken wir in Ruhe darüber nach.
Natürlich gibt es Kostüme, die einfach nicht gehen. Manche – wie der „Neppesser Negerkopp“ – wurden schlicht von den Zeiten überholt. Andere – wie Donald Trump – haben sich selbst überholt. Und selbst bei diesen Kostümen hängt es noch von der persönlichen Inszenierung ab, das „Eichhörnchen vom White House“ funktionieren gut. Obwohl das natürlich den Teufel diskriminieren könnte.
Was bleibt dann noch als Kostüm, wenn es denn – so der Anspruch – diskriminierungsfrei und vorurteilsbewusst gestaltet wird? Der Cowboy muss mit dem Indianer vermottet werden, denn der gewaltfreie Umgang mit Minderheiten ist keineswegs garantiert. Und so ergeht es auch fast allen anderen. Verkleidest du dich als „Sonnenschein“ dann geht das nur auf Kosten des Regens. Umgekehrt ist „Nieselregen“ als Kostüm nicht nur unpraktisch, sondern marginalisiert alle anderen Formen von Niederschlag. Wie fühlt sich denn ein Hagelschauer, wenn er die ganze Session von lauter „Nieselregen“ umgeben ist?
Auch die Klassiker müssen auf die schwarze Liste. Der gute alte „Lappeclown“ diskriminiert gleich dreifach: Die wahren Clowns dieser Welt, das nordische Volk der Samen und die ehrwürdige Kölner Schneiderinnung. Gerade am Schneider ist der fatale Effekt dieser Diskriminierung deutlich sichtbar: Mailand, Paris und New York stehen für die „Haute Couture“, und nicht etwa Köln, denn bis heute denkt jeder, Kölner Schneider könnten nur Lappen aufnähen.
Probieren wir was anderes. „Appelsinefunke“ klingt erstmal unverfänglich, obwohl natürlich jedes Kind weiß wie schnell bereits ein einzelner Funke ein formidables Feuer entfachen kann. Und im Allgemeinen tritt der Funke nicht alleine auf. Dann noch die Apfelsine davor, eindeutig weiblich und damit sexistisch (Ja, es gibt auch Namen die auf wahre Eigenschaften deuten). Aber das Schlimmste kommt noch, denn das Wort „Apfelsine“ leitet sich vom „Apfel aus China“ her, und das diskriminiert beide, die Chinesen und den deutschen Apfel. Also ist zumindest eine Umbenennung vonnöten, der „Appelsinefunk“ muss „südfruchtfarbiger Kölner Stadtsoldat (Männlich, Schrägstrich, Weiblich, Schrägstrich, Diverse)“ genannt werden.
Allerdings ist die Kostümfrage nicht hoffnungslos. Die eine oder andere Möglichkeit steht den Karnevalisten auch dann noch offen, wenn jedes Vorurteil und auch das letzte Stereotyp ausgeräumt ist. Diese kleine Lücke entsteht an den Rändern des Lebens, dort wo wir Menschen noch alle gleich sind. Als Baby zum Beispiel, alle werden geboren, da kannst Du keinem mit auf die Füße treten, allein weil du noch nicht laufen kannst. Nur eines gilt es zu bedenken: Die Farben blau und rosa müssen unbedingt vermieden werden. Am anderen Ende gibt es dann noch den Sargträger, denn der tut ebenfalls keinem mehr weh. Das schafft auch Möglichkeiten zum Umweltschutz, das Kostüm eines Sargträgers lässt sich kinderleicht aus dem Vampirkostüm basteln, einfach das Blut und die spitzen Zähne weglassen.
Wer das beides nicht mag, dem bleibt nur das rot-weiße Kostüm als Fan des 1.FC Köln. Wenn die singen „Nie mehr zweite Liga“, dann könnte man in Bielefeld oder Sandhausen eine Diskriminierung reklamieren. Könnte man! Es wird aber kein Sandhäuser oder Bielefelder Fan jemals auf die Idee kommen, denn sie alle wissen genau: Der FC kommt wieder, denn nach dem Aufstieg ist vor dem Abstieg. Obendrein würden die Fans des FC diese Zeile auch dann noch schmettern, wenn sie gerade in die dritte Liga abgestiegen sind.
Doch damit erschöpft sich auch die Welt der diskriminierungsfreien Kostüme. Also müssen wir das Dilemma anders lösen, mit Mitteln, die dem kölschen Karneval seit Anbeginn zu Eigen sind: Das Problem wird liebevoll umarmt und dann einfach mundtot gebützt.
Daher verkleide ich mich im nächsten Jahr als „barrierearmer Kitaleiter“. Auch das funktioniert sicher nicht ohne Ausgrenzung. Die aber mache ich transparent und verteile statt Kamelle mein Manifest. Ein engbedrucktes Pamphlet in dem auf achtzig Seiten alle denkbaren und undenkbaren Missverständnisse erläutert, diskutiert und nachhaltig ausgeräumt werden. Irgendwo im Kleingedruckten auf Seite achtundsiebzig verstecke ich ein Preisausschreiben. Der Hauptgewinn ist eine Packung Schaumwaffeln und alle dürfen daran teilnehmen, auch die indigenen Völker Nordamerikas.

Das Knie Teil 2: Die Schöne und die Schulter

Respekt vor solch durchdachter Planung in einem Krankenhaus! Ich, das Knie, teile das Zimmer mit einer Schulter. Damit besitzen die Bewohner des Zweibettzimmers drei brauchbare Arme und Beine. In anderen Worten, ich schmiere die Stullen und die Schulter schleppt das Material heran, eine perfekte Symbiose. Läuft also bei uns, wenn nur nicht … (Ja, immer gibt es ein „wenn nur nicht“ im Leben und fast immer geht es um das Eine …), also wenn nur der Liebeskummer nicht wäre. Ich weiß nicht, ob er noch betäubt war oder schon wach, aber das erste Wort, das ich von ihm vernahm, lautete „Wiebke“. Da ahnte ich noch nicht einmal, wer das ist. Aber das sollte sich bald ändern, denn das Krankenzimmer von Männern ist ein Ort ohne Geheimnisse.
Aber ich muss vorne beginnen. Die Schulter ist Mitte zwanzig und stammt aus einem Ort im Sauerland, dessen Name nichts zur Sache tut. Solche Orte stehen häufig im Sauerland. Manche behaupten, das Sauerland bestünde daraus. Daran glaube ich allerdings nicht, für mich besteht das Sauerland aus Fichtenwald.
Dort ist er der unbestritten beste Spieler des örtlichen Fußballklubs. Der wiederum spielt in der Kreisliga B mit Ambitionen und einem Mäzen. Dank des finanzkräftigen Sponsors erhält die Schulter vierhundert Euro im Monat für das Kicken, ein fürstliches Gehalt. Obendrein ist der Mäzen Bauunternehmer, spezialisiert auf Parkhäuser und Lagerhallen, und Arbeitgeber der Schulter. Daher ist die Schulter eine lokale Berühmtheit, darf trainieren gehen statt auf Montage und dann ihre Schnelligkeit auf den Platz bringen. Doch genau in seiner Schnelligkeit lag das Verhängnis.
Schnelle Sprinter sind selten in der Kreisliga B, deswegen kann die Schulter viele Tore erzielen. Viel häufiger ist dagegen die Blutgrätsche.

Fatal nur, wenn die Blutgrätsche auf einen solchen Läufer trifft. Die gesamte kinetische Energie verwandelt sich schlagartig in Reibung, Wärme und gebrochene Knochen. Früher auf dem Ascheplatz mehr Reibung, heute auf dem Kunstrasen mehr gebrochene Knochen. Dafür fließt weniger Blut. Solch ein unglückliches Treffen von Sprint und Blutgrätsche machte die Schulter zur Schulter. Und weil der Mäzen langfristig denkt, liegt er jetzt neben mir, in die Großstadt verschifft, damit der »Herr Professor« sich drum kümmert.
„Ich kenne sie vom Bachelor, das sah sie nochmal besser aus“, so lautet der erste ganze Satz, den ich von der Schulter höre. Dann muss er mir erklären, was der Bachelor ist und ich beginne zu verstehen. Wiebke war sein absoluter Favorit und hätte die Show locker gewinnen müssen. Hat sie aber nicht, und das ist das Beste, denn deswegen ist sie noch nicht vergeben. Kein Wunder, dass er etwas wirr redet. Eben noch willst du nur das nächste Tor schießen. Dann wachst du in einer Großstadt aus der Narkose auf und vor dir steht eine Traumfrau, die du bisher nur aus dem Fernsehen kanntest. Denn Wiebke, die Wiebke aus dem Fernseher, ist unsere Krankenschwester.
Die Schulter besitzt noch das ländliche Urvertrauen und wendet sich deshalb hilfesuchend an mich. Ich käme doch aus der Stadt und würde mich mit solchen Dingen sicher besser auskennen. Mir scheint es opportun, ihm diesen Glauben nicht zu nehmen und spiele mit. Nach sechsunddreißig Stunden werden sie uns hier rauswerfen, also sollte er besser Gas geben, so mein pragmatischer Ratschlag.

Die Umsetzung geht aber gründlich schief, als Wiebke das Zimmer betritt. Sie sieht aus, als hätte sie vor dem Frühdienst noch bei RTL in der Maske vorbeigeschaut, die dunklen Augenbrauen frisch gezupft und die Nägel passend zum Schwesternkittel lackiert. „Kaffee oder Tee?“, fragt sie fröhlich, doch die Antwort der Schulter verliert sich in ihren „smoky eyes“. Vor lauter Schnappatmung finden die Worte keinen Weg. »Kaffee für uns beide, gerne«, antworte ich und kaufe ihm damit etwas Zeit.
Wiebke kehrt mit dem Kaffee zurück und begibt sich direkt an ihre Krankenschwesternkunst. Fieber, Befinden und Blutdruck. Meiner liegt bei hundertzwanzig, bei der Schulter zeigt das Gerät hingegen hundertzweiundvierzig. „Etwas hoch bei dir, der Blutdruck“, entfährt es Wiebke und die Schulter versenkt, zu meiner Verwunderung, die Steilvorlage ohne Zögern in den Winkel. Seine Antwort: „Das liegt nur an Dir!“
Ich ziehe meinen nicht vorhandenen Hut und zeige ihm, hinter Wiebkes Rücken, einen hochgestellten Daumen. Krankenhaus ist besser als Kino, denke ich dabei. Egal wie es weitergeht, an einer mangelnden Chancenverwertung scheitert es nicht. Wiebke stoppt mitten in der Bewegung, runzelt für eine Sekunde die geschminkte Stirn und sagt dann einfach: »Danke.«. Könnte schlechter laufen, finde ich. Danach beginnt sie mit dem Erklären der Tabletten: Die kleine ist für den Magen, die lange gegen Schmerzen und die bunte hemmt die Entzündung. „Für den Blutdruck brauchst du ja keine“, schiebt sie noch mit einem kecken Lächeln hinterher. Gut, dass er mich gefragt hat, denke ich, läuft doch!
Doch dann eskaliert die Lage schlagartig, als Wiebke geschäftsmäßig fragt: »Brauchst du Hilfe beim Duschen?« Die Schulter verfällt wieder in Schnappatmung, zum Glück ist das Blutdruckgerät abgeschaltet, sonst wäre der Notarzt schon im Anmarsch. Zehn Sekunden vergehen in Stille, zehn Sekunden, in denen selbst der Wecker auf meinem Nachttisch stehenbleibt. Dann lassen Atmung und Blutdruck der Schulter das Sprechen wieder zu: »Danke! Nein ich komme schon klar«. Wie blöd kann einer alleine sein? Ich schaue entsetzt zu meinem Bettnachbarn, Wiebkes Gesicht kann ich nicht sehen.
Ich hätte es wissen müssen, ein Mann vom Land kommt immer ohne Hilfe klar. Nur keine Schwäche zeigen. Schweiß und Arbeit sind immer gut, die Tränen und der Schmerzen dagegen geheim. Die Schulter sieht mein entgleistes Gesicht und beginnt zu ahnen: Das war suboptimal, Enttäuschung verteilt sich in großen Klecksen über sein Gesicht. Ich zögere kurz, denn ich bin ja Berater und kein Mitspieler. Aber was bleibt mir anderes übrig, ich muss eingreifen, sonst wird das nichts. »Die Schulterbandage kann er aber nicht alleine ausziehen«, so ertönt meine Stimme aus dem Off. Sie klingt nach Besserwisser und fürsorglichem Onkel, also gerade richtig.
»St… st… stimmt«, stottert die Schulter und grinst dabei erleichtert von einem Ohr zum anderen. „Wo er recht hat, hat er recht“, bestätigt Wiebke mit einem kurzen Kopfdrehen zu mir, „Komm ich helfe Dir eben“. Der Bann ist gebrochen und die Schulter beginnt zu schnattern: »Ich würde es ja schaffen, aber der Klettverschluss verheddert sich immer«. »Ich weiß«, entgegnet Wiebke, »das geht am Anfang jedem so, aber du kannst hier nach unten ziehen und dann…«, unter fröhlichem Geplauder verschwinden die beiden im Bad und die Welt ist in Ordnung. Nur der Wecker geht etwas nach.
Kaum eine Minute später taucht Wiebke wieder auf, im Hintergrund rauscht das Wasser der Dusche. Sie durchquert das Zimmer und wirft mir einen warnenden Blick zu, „bloß den Mund halten“ sagt der laut und deutlich. Wäre nicht nötig, denn ich habe schon mehr als genug gesagt. Dann zieht sie einen Stift aus der Tasche, schreibt etwas auf den Einwegwaschlappen in ihrer Hand. Eine Handynummer und darunter einen zwinkernden Smiley kann ich erkennen, bevor sie den Waschlappen auf dem Kopfkissen der Schulter drapiert. Abgang Wiebke, Vorhang zu, ihre Schicht ist erledigt, und mein Auftrag auch. Am Ende stimmt alles wieder, sogar der Wecker.

Die Geschichte eines Moralisten: Teil 1 der Eifeltrilogie

»Gestatten, Eduard Pommerich, Oberlehrer im Ruhestand«

Das Schicksal hat mir einen Campervan, ein freies Wochenende und laues Frühlingswetter untergeschoben. Besser könnte ich auch bei der sprichwörtlichen Fee mit den drei Wünschen nicht wegkommen. Die Eifel ruft, und zwar nach einem Stellplatz fernab von jedem Campingplatz, ohne aufblasbaren Jägerzaun darf ich dort nicht nächtigen. An unrechtmäßigen einsamen Plätzen besteht jedoch kein Mangel, schon bald entdecke ich meinen Favoriten. Einzig der Hochsitz auf der anderen Seite des Tales stimmt mich anfangs skeptisch, stehe ich nicht genau in der Schusslinie? Andererseits passt ein Campervan nicht in das Beuteschema des deutschen Waidmanns, Großwildjagd ist was für Afrika. Und das sollte selbst in der Hocheifel bekannt sein.

Also bleibe ich, sitze ich in der Abendsonne vor meinem Camper und erfreue mich an Aussicht, orangefarbenen Linien, die Flugzeuge für mich in den Himmel malen, dem rhythmischen Klopfen eines Buntspechtes und der Lektüre meines Buchs in das ich vollkommen versinke. So lange, bis der Buntspecht schweigt und Herr Pommerich vor mir steht:

»Gestatten, Eduard Pommerich, Oberlehrer im Ruhestand«

Welch ein Satz! Der Mann muss sich direkt aus dem Museum vor mir materialisiert haben! Deswegen konnte er auch lautlos vor mir auftauchen. Jedes Wort ein Anachronismus, und die Erscheinung unterstützt das Bild. Herr Pommerich ist gut einen Meter und sechzig Zentimeter groß, einachtundfünfzig, wenn ich die karierte Schlägermütze auf seinem Kopf nicht mitzähle. Selbst sein Schatten hält sich kerzengerade und jedes Hautfältchen in seinem pensionierten Gesicht ist säuberlich rasiert. Begleitet wird er von einem, ebenfalls ergrauten, Rauhaardackel an einer neongelben Hundeleine.

»Guten Abend!«

Mein Gehirn ist viel zu beschäftigt, um eine intelligentere Antwort zu erdenken. Warum tragen pensionierte Lehrer immer Schlägermützen? Und woran erkennt ein Rauhaardackel, dass die Beute zur Strecke gebracht ist, wenn sein Herrchen nur einen Stock und ein scharfes Mundwerk besitzt? Wie lange wird seine linke Pfote noch auf mich zeigen? Währen ich noch nach Antworten suche, feuert der Oberlehrer bereits die nächste Ladung verbalen Schrotes ab:

»Dieser Wald ist Teil meines Dorfes!«

Das ist, wie ich finde, äußerst großzügig bemessen, denn das nächstgelegene Dorf ist mindestens drei Kilometer entfernt. Luftlinie! Eine göttliche Eingebung befiehlt mir, diesen Gedanken nicht auszusprechen. Stattdessen schaue ich nur dümmlich zwischen dem langsam ermattenden Hund und dem immer vitaler wirkenden Rentner hin und her.

»Eine Nächtigung an dieser Stelle befände sich in misslichem Konflikt mit einer Reihe von Vorschriften, die gleichwohl nützlich wie wichtig ich zu erachten die Pflicht besitze«

Wie bitte? Ich verstehe nur die Hälfte, aber eines verstehe ich: Die Situation wird langsam ungeschmeidig. Pommerich hat sich als Amtsperson etabliert (Oberlehrer!), ein Fehlverhalten postuliert (Wildcampen!), sein persönliches Interesse dokumentiert (»Mein« Dorf) und mich als Täter identifiziert.

Ich mag das Wildcampen ja als lässliche Sünde verstehen, aber der dramatischste Regelverstoß im Leben des Herrn Oberlehrers bestand bestenfalls daraus, am Karfreitag unbewusst eine Schlagermelodie gepfiffen zu haben. Vor fünfunddreißig Jahren, wenn überhaupt. Mir muss eine überzeugende Antwort einfallen, und zwar sofort, sonst eskaliert die Lage. Ich starte einen Versuch, vielleicht geht es mit Lokalpatriotismus:

»Wissen Sie, ich bin Romanautor und möchte die Landschaften authentisch erleben, bevor ich darüber schreibe!«

Weiter daneben hätte ich nicht liegen können, denn Pommerich setzt zu einer Tirade an, die selbst den Dackel dazu bringt die pflichtgemäße Beute (mich!) aus dem Auge zu verlieren und verwundert nach seinem Herrchen zu schauen. Der schwingt seinen Wanderstab durch die Luft, wie sintemals den Rohrstock über dem Hintern des Pennälers:

»Das kennen wir! Diese Möchtegernschriftsteller, kommen aus dem Moloch ihrer Städte, sehen das erste Mal seit Menschengedenken einen Bauernhof und glauben dann der Milchknecht sei ein Original. Am Ende stehen auf dünnem Papier noch viel dünnere Sätze und alle Eifler sind entweder ahnungslose Bezirkstrottel oder bringen sich gegenseitig um. Glauben sie mir: Hier gibt es keine Originale!«

»Mitnichten«, sollte ich antworten, »Thema verfehlt! Setzen! Sechs! Ich sprach von den Landschaften!« Sollte ich, mir gelingt jedoch nur ein beschämtes Grinsen, wie einem Sextaner ohne Hausaufgaben.

»Sie und ihresgleichen, das wird noch ein schlimmes Ende nehmen in diesen …, diesen Städten, aber eines kann ich ihnen sagen: nicht mit uns! Nicht hier! Solange ich noch …!«

Wenn ein altgedienter Dorflehrer nur noch unvollständige Sätze stammelt, dann ist die verbale Kommunikation beendet. Mir bleibt nur noch eine Wahl: die physische Überlegenheit. Selbst wenn ich auf seine einsachtundfünfzig die fünf Zentimeter der Schlägermütze und – sehr wohlmeinende – fünfzehn für den Dackel addiere, bin ich immer noch einen Kopf größer.
Dazu muss ich aber erstmal aufstehen und zuvor mein Buch aus der Hand legen. Zugegeben, gemeinhin packe ich Bücher einfach aufgeschlagen neben mich. Wenn es pressiert, knicke ich sogar mal eine Seitenecke. Meine Jahre auf der Schulbank waren nicht vollends vergebens, denn mir ist klar: Solch Frevel an einem Buch in Gegenwart des Oberlehrers Pommerich würde meinen endgültigen Garaus bedeuten. Also schiebe ich brav das Lesezeichen zwischen die Seiten, klappe mein Buch zu und lege es, gerade wie des Lehrers Rücken, auf den Tisch. Erst dann baue ich mich in ganzer Länge vor ihm auf.

Ich kenne genügend Eifelkrimis, um zu wissen, was jetzt geschieht. Obendrein hat Eduard mir den Plot ja auf dem goldenen Tablett serviert: Der Zeuge muss beseitigt werden, bevor er reden kann. Danach kann ich den Dackel grillen. Während ich meine Hand erhebe, meldet sich die Stimme des Zweifels in meinem Kopf: »Damit reitest du dich nur noch tiefer rein, am Ende kommt eh alles raus«. Recht hat sie, und Grillen im Dorfwald ist mit Sicherheit verboten. Spontan wähle ich die Waffe des Wortes, und da mir selbst nichts einfällt, zitiere ich aus dem gerade zugeschlagenen Buch:

“Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.”

Pommerichs Blick wechselt von Ärger zu Erstaunen und fällt auf den Buchrücken, der scheinbar unbeteiligt auf dem Tisch die Seiten umklammert. Der Mann vor mir verwandelt sich wie von Zauberhand: Ein Lächeln strahlt aus seinem Gesicht, die knochige Hand übergibt den Stock der Schwerkraft und selbst der Dackelschwanz beginnt, in treuer Ergebenheit zu wedeln:

»Sie lesen Kästner? Den Fabian? Aus freien Stücken? Das nenne ich große Literatur!«

so ruft er freudig aus und beginnt seinerseits zu deklamieren:

»Die Umstände sind ebenso gewöhnlich wie ungewöhnlich«.

Damit ist mein Regelverstoß ausgeglichen und befinden wir uns an einem Punkt der Einigkeit. Weitere folgen auf dem Fuß. Ein gut temperierter Riesling von der Mosel, den ich schleunigst offeriere, ist einer der nachhaltigsten.

Obendrein spült der Riesling auch die Toleranz des Herrn Pommerich zum Vorschein, großzügig akzeptiert er den Moselwein im Plastikbecher. Allein, nicht ohne den Hinweis, das ein kultivierter Wein – und als solcher sei der Riesling aus guter Mosellage zweifelsohne zu titulieren – bevorzugt in einem unprätentiösen Kelch grüner Farbe zu gustieren sei. Nun denn, irgendwoher muss der Unterschied zwischen Lehrer und Oberlehrer ja kommen.

»In einem aber, junger Freund, …«, so beginnt Pommerich seinen Abschied, als die Flasche zur Neige geht und er leicht schwankend vor mir steht: »In einem muss ich bei aller Freundschaft insistieren: Ihre Originale werden sie hier niemals finden!«
Ja, Nein, ist schon klar!

„Jetzt ist der Löhr auch weg“

Alles was geschrieben werden kann, ist bereits geschrieben. Nur eben nicht von jedem. Das gilt natürlich auch für die Freuden und Leiden der Anhänger des 1.FC Köln, nur meine Zeugnisse fehlen bislang. Wahrscheinlich ist das Thema einfach zu groß um es in eine kleine Geschichte zu packen.

Fangen wir mit den Fakten an: Was unterscheidet den FC von anderen Vereinen? Keine Mannschaft konnte häufiger einen Meistertitel der Bundesliga feiern als die Kölner. Dabei ist der kleine Unterschied zwischen „feiern“ und „gewinnen“ natürlich bedeutsam. Nur hier in Köln genügen zwei gewonnene Spiele und wir sind quasi Meister. Das kleine Wörtchen „quasi“ schafft diese besondere Verbindung zwischen Raum, Zeit und Realität, die im Rheinland zuhause ist. Die Meisterfeier nach dem zweiten Spieltag der Saison wird somit unvermeidlich. Das ist auch gut so, denn dieses Fest kann uns niemand mehr nehmen.

Die nächste Besonderheit sind die Spieler des FC. Icke Häßler, Lukas Podolski, Bodo Illgner, Toni Woodcock, Wolfgang Overath, Cullmann, Flohe, Allofs und Hannes Löhr,… die Liste könnte endlose fortgesetzt werden: jeder Spieler der die Geißböcke auf der Suche nach vermeintlich höheren Weihen verlies, ist entweder reumütig zurückgekehrt oder gleich auf das Altenteil gezogen. Gehalt hin und internationale Auftritte her, wer bereits ganz oben ist, kann danach nur noch absteigen.

Fußball spielen? Ja, auch das kommt vor beim FC; manchmal! In seltenen Fällen auch schöner Fußball, aber wenn ich ehrlich bin: Davon wird keiner zum Fan. Eher schon durch die halbe Stunde im Stadion bevor das Spiel beginnt. Noch selten wurde ein Gegner bereits vor dem Anpfiff geschlagen, aber die Stimmung im Kölner Stadion vor dem Spiel ist einfach unschlagbar. Singen können wir besser als alle anderen. Das bringt ungefähr so viel, wie der Titel „bester Schwergewichtsboxer im Yogakurs“, nämlich gar nichts. Aber es macht Spaß.

Schließlich ist es wie immer im Fußball: Für das Leben zählt eben nicht was auf dem Platz geschieht, sondern die Weisheit die sich im Umfeld entfaltet. Glück, Stabilität und Zufriedenheit verströmt er dieser Verein und die Stadt ist voller Philosophen die das verstehen.

So wie der unbekannte Platznachbar im Stadion mich jüngst mit den Worten begrüßte: „Jetzt ist der Löhr auch weg!“ Eine komplette Trauerrede in sechs Worten und einem Ausrufezeichen, gefüllt mit Liebe für das Leben und Respekt vor seinem Ende. Mehr Philosophie geht nicht. Oder der Chef vom Büdchen um die Ecke, den ich gerne frage wie es ihm denn geht. Seine Antwort ist ebenso beständig wie politisch unkorrekt: „Hauptsache die Frau hat Arbeit und der FC steigt nicht ab“.

Der FC ist also kein Verein, sondern eine Philosophie. Nur eines steht darin fest: Die nächste Meisterschaft für den FC kommt bestimmt, oder doch vielleicht. Auf jeden Fall aber werden wir einen Grund finden um sie zu feiern. Quasi!

Aschermittwoch

Spätestens der Aschermittwoch spült die melancholischen Gedanken in das kölsche Gemüt, umso mehr je weiter das von Köln entfernt ist. Zeigen kann der Kölner das natürlich niemandem, aber es treibt ihn um, tief im Herzen. Sofern er das nicht in den tollen Tagen verschenkt hat, und vergessen es wieder einzusammeln. Der nächste Karneval ist weiter entfernt denn je, der Blick nach vorne verheddert sich in der grauen Fastenzeit und das Jetzt leidet unter Restschminke. So bleibt nur der Blick zurück in die gute alte Zeit, denn dort in seinen Erinnerungen findet er die Rettung. Keiner überlebt in dieser Stadt, ohne eine Sammlung ganz eigener Erinnerungen an den Karneval, eine Kiste voller Erlebnisse, die sich – wie die Kiste mit den Kostümen- von Jahr zu Jahr weiter füllt.

So ergeht es natürlich auch mir, dem Imi. Niemand hegt auch nur den Funken eines Zweifels daran, dass der Zugereiste mit Herz und Seele Karneval feiert. Allerdings geht es dem Karnevalisten wie dem Skifahrer: Nur wer es mit der Muttermilch lernt, wird die perfekte Geschmeidigkeit erreichen. Bei allen jedoch sammelt sich über die Jahre ein persönlicher Vorrat an Karnevalserinnerungen, Wundermittel im Kampf gegen den Aschermittwochsblues:

Mein erster Karneval in Köln. Die Studentenbude bietet den sicheren Hafen für den Karnevalsbesuch aus der provinziellen Heimat. Also lautet des Gastgebers erste Pflicht: Nahrung sicherstellen; fest und flüssig. Und das spätestens an Weiberfastnacht, denn danach werden die Geschäfte geschlossen, zumindest zu den Tageszeiten, an denen sich ein Student im Laden sehen lassen kann. An der kombinierten Fleisch-Käsetheke des Supermarkts beginne ich zu verstehen warum es Weiberfastnacht heißt: ich bin von Frauen umgeben. Vor mir die Verkäuferin – mutig als Huhn verkleidet – hinter mir ein Papagei und ein Lappenclown, die gemeinsam über mehr als hundert Jahre Lebens- und Karnevalserfahrung verfügen.

Käse verlange ich zunächst, und zwar Gouda, ein großes Stück. Andere Käsesorten sind mir in dieser Lebensphase noch fremd, außer Schmierkäse in Dreiecksform und Babybel, aber der darf sich nicht Käse nennen. „Darf es ein Stück von dem alten Gouda sein?“ Wenn es nach der Stimme geht, so hätte sich die Verkäuferin als Hahn verkleiden sollen, ihre Frage ist auch noch im letzten Winkel des Supermarktes zu verstehen. Natürlich lehne ich ihr Ansinnen ab, der Käse muss über das lange Wochenende halten, da kann ich keinen gebrauchen, der jetzt schon alt ist. Papagei und Lappenclown hinter mir amüsieren sich köstlich.

Wenn ich meine Kompetenz in Sachen Käse noch als passabel bezeichnen würde, so musste ich im nächsten Schritt auf wirklich dünnes Eis: Ich will Rindersuppe kochen. Dafür benötige ich Fleisch, besitze jedoch keine Ahnung welches und wieviel. Ich bin nur froh, dass ich mich gegen Hühnersuppe entschieden hatte. In solcher Not hilft nur die Flucht nach vorne unter die hoffentlich warmen Flügel des Metzgereihuhns, dem ich mein Begehren und meine Unwissenheit beichte.

„Da nehmen sie ein Stück hohe Rippe und einen schönen Markknochen und dann passt das“,

so lautet ihre Diagnose und sie beginnt, die entsprechenden Teile abzuwiegen. Ein Fehler, der nicht ungestraft bleiben wird, denn sie ignoriert eine Grundregel der rheinischen Demokratie die da lautet: »Jeder der denkt, er müsste etwas sagen, wird gehört«. Die beiden Damen hinter mir mögen in ihrem Leben zehntausende von Suppen gekocht haben und werden nicht befragt? Es wäre nicht Köln wenn sie ihr Wissen nicht auch ungefragt preisgeben würden. Ohne seine Enttäuschung zu verhehlen, beginnt der Papagei:

„Also du närrisches Huhn, das ist doch Quatsch, Leiterstück braucht der Junge, damit es eine richtige Suppe gibt“.

Einsatz Lappenclown: „Das wird nichts, der ist Anfänger. Beinscheiben muss er nehmen und einen Ochsenschwanz“.

Das Huhn wagt zu widersprechen, immerhin sei es gelerntes Fleischereifachverkaushuhn!

Dieses Argument bringt die beiden Damen keineswegs zur Ruhe. Im Gegenteil, der Papagei wirkt mit den Händen an den Hüften und hochrotem Kopf wie eine mittelalterliche Marktschreierin und der Lappenclown geht dazu über, seine Argumente mit dem Trommelstock zu untermauern.

Im Auge dieses Sturms entsteht ein kleiner Moment der Ruhe, den ich schleunigst ausnutze und einfach von allem etwas ordere, Leiterstück, Beinscheibe, Markknochen, Ochsenschwanz und hohe Rippe landen in meiner Tüte. Die Suppe war nicht günstig, aber hervorragend. Wer sagt denn, dass ein Kompromiss immer auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner enden muss.

Eifelkloster

Nur übernachten möchte ich in diesem Kloster, bestenfalls noch Frühstücken, falls ich denn früh aufwachen sollte. Keinesfalls jedoch hier zu Abend essen. Direkt nebenan ruft ein Eifeler Landgasthaus mit bester Küche, mein Sinnen steht nach Wildbraten und Rotweinsoße. Das ist aber der Versuch die Rechnung ohne den Wirt zu machen, genauer gesagt ohne Schwester Maria Antonie. Seit fünfzig Jahren begleitet sie die Klostergäste zu ihren Zimmern. Und offensichtlich freut sie sich auch heute über jeden Gast genauso wie in der Zeit, als ich noch nicht einmal in den Träumen meiner Eltern existierte.
Anstatt direkt zur Klosterzelle, führt sie mich in die hinterste Ecke der Klostergebäude, eine enge Steige hinauf und durch eine Tür mit dem Schild „Nur im Brandfall öffnen“. Der Grund: Die Sonne geht unter und von der freischwebenden Feuertreppe lässt sich das Schauspiel in Pastelltönen am besten erspähen. Das Wackeln der Treppe gleicht den wackligen Gang der alten Nonne perfekt aus, nur ich komme beinahe ins Straucheln. Glücklicherweise verlaufen die Sonnenuntergänge in der herbstlichen Eifel recht zügig, denn selbst, solange die Sonne scheint, bleiben die Temperaturen hier einstellig. Ich bin zwar angemessen bekleidet, aber nur für das Beziehen eines Zimmers, nicht für Exkursionen.
Wie das jetzt mit dem Wildbraten zusammenhängt? Schwester Maria Antonia leitet mich auf dem Rückweg am Refektorium vorbei, und vergisst dabei nicht auf das leckere Klosteressen hinzuweisen. Einmal durchgefroren schwindet in mir jegliche Motivation das heimelige Kloster heute noch zu verlassen und ich entscheide für den heimischen Herd. Allerdings missachte ich den dringlichsten Ratschlag meiner Begrüßungsnonne. Eindrücklich hatte sie darauf hingewiesen am Anfang der Essenszeiten aufzutauchen, denn, so ihre Worte, „das Warme ist früh am Leckersten“.

 

Sicher ein weiser Rat, doch was nützt das beste Abendessen, wenn es nicht Abend ist. Also erscheine ich als einer der Letzten im Saal, hohe Stapel benutzter Teller auf dem Geschirrwagen zeigen an, dass hier die sprichwörtliche Ruhe nach dem Sturm herrscht. Und ein solcher ist offensichtlich durch den Speisesaal gezogen. Bestand die achte Plage im alten Ägypten aus Heuschrecken oder Firmungskindern?
Ein wenig nervös, weil ich den eindringlichen Rat der Nonne ignoriere, bewege ich mich in Richtung Büffet. Aber ein Blick auf das Essen zeigt mir an, dass ich heute ungestraft davonkomme; der Junge in mir wird satt und glücklich das Refektorium verlassen. Die Tische biegen sich unter Essensbergen und die warmen Speisen bestehen aus heißen Würstchen, lauwarmen Kartoffelsalat mit Speck und selbst gebratenen Frikadellen. Nichts was durch ein Stündchen warmhalten an Geschmack verliert. Daneben Blutwurst, Schinken und Sülze im schweigenden Wetteifer um den höchsten Stapel. Erkenntnis des Tages: Fleisch ist keinesfalls krebserregend, sonst wäre die Eifel längst entvölkert.
Hinter dem Tresen treffe ich wieder auf Schwester Maria Antonia, welche großzügig die Teller der Gäste auffüllt.  Der Mann vor mir fragt höflich an, ob die Frikadellen denn aus Fleisch bestünden. „Selbstverständlich!“, antwortet die Nonne. „Und auch selbstgemacht, nicht gekauft?“ Diesmal zögert sie eine kleine Sekunde, bevor sie die gleiche Antwort wiederholt: „Selbstverständlich!“. Der Herr zieht mit zufriedenem Ausdruck und beladenem Tablett weiter und ich rücke nach. Schwester Maria Antonia schaut ihm für einen Moment ungläubig hinterher, wobei ich mir unsicher bin, ob eine Ordensfrau ungläubig schauen kann. Dann sammelt sie sich wieder und richtet ihr nachdenkliches Lächeln zu mir. Kaum merklich schüttelt sie den Kopf als sie mich fragt:

„Gibt es Fleischklöpse inzwischen im Supermarkt?“
„Ich denke schon“, antworte ich, „aber ich glaube die kauft keiner“.

Alpines in Nippes – Teil drei der Nippestrilogie

Ein Event inmitten der Großstadt und das Kölsch kostet einen Euro,… gibt es nicht? Doch bei den Alpinvorträgen des Kölner Alpenvereins. Und das nicht nur als Lockangebot, um dann mit dem Essen abzusahnen, denn auch die belegten Brötchen kosten nicht mehr. Hier ist er, der letzte Hort des Mettbrötchens, frische Zwiebeln kleben wie Gipfelkreuze auf dem Metthügel, welcher seinerseits so unbezwingbar wie die Nordwand des Eigers aus der Brötchenhälfte ragt.
Der Saal ist prall gefüllt mit Menschen, die selbst nach dem Verzehr von zweien dieser Eigermettwände noch vor Energie und Fernweh strotzen. Die Frauen tragen kein Make-up, dafür aber Haare unter den Achseln und Blick auf die Männer verleiht mir zum ersten Mal im Leben das Gefühl, modisch ganz vorne zu stehen. Wer hierher kommt, will sehen, und nicht gesehen werden.
Und reden natürlich, reden von vergangenen und bevorstehenden Exkursionen, Kletterwänden, Besteigungen und sonstigen waghalsigen Tätigkeiten. Deutsch dominiert die Gespräche, oder das was man dort wo die Besucher herkommen dafür hält. Der eine sächselt, die andere schwäbelt. Bayrisches Gebrummel trifft auf Berliner Schnauze. Alle, deren Lebensweg in die Berge durch Köln führt, sind hier versammelt. Auch kölsche Töne sind gelegentlich zu vernehmen, aber der süddeutsche Einschlag überwiegt. Auf jeden Fall lauter Menschen deren Heimat nicht unbedingt an ihrem Wohnort liegt und die wissen wie sie mich aus einer Gletscherspalte bergen könnten. Eine sehr beruhigende Erkenntnis, auch wenn Gletscherspalten in Köln bestenfalls in Druckform auftreten.

Der Referent stammt aus Österreich, ein typisches Exemplar, dem das Schneckensammeln nie gelingen wollte, weil die immer so schnell wegrennen. Auch er ist von den Bergen „desinfektsziert“, insbesondere den Bergen des Himalayas. Nachdem die pfeifende Rückkopplung aus dem Lautsprecher alle Aufmerksamkeit auf ihn gezogen hat, beginnt er mit seinem Vortrag. Das erste Bild zeigt eine Räucherschüssel: „Wann I den Geruch aus dem Inzenstopf in dera Nasen hab, da weisst, dass wieder dahoam bist in die schönsten Berg“. Die meisten seiner Zuhörer wissen genau, wovon er redet und lauschen gespannt.
Doch bereits das zweite Bild ruft großes Tuscheln im Publikum hervor. Es zeigt den Referenten, der sich in Outdoorkleidung an einem Herdfeuer wärmt. Aufgenommen wurde es in den achtzigerer Jahren in einem abgelegenen nepalesischen Dorf. Die Reaktion des Publikums wird aber keineswegs durch das Bild hervorgerufen, sondern vielmehr durch den Kommentar des Referenten: „Wie Sie sehen, hat sich die Mode auch beim Bergsteigen in den letzten dreißig Jahren stark verändert!“
Die Verwunderung, insbesondere des männlichen Publikums, hätte nicht größer sein können, wenn er das Matterhorn nach Deutschland verlegt hätte. „Siehst Du, ich habe es doch schon immer gesagt“, so höre ich weibliches Tuscheln, gefolgt von der männlichen Antwort: „dass muss er doch so sagen, wegen seinem Sponsor“. Damit ist der Modeteil abgehakt und die Berge und ihre Bewohner rücken wieder in den Mittelpunkt.
Nach etwa einer Viertelstunde fällt mir auf, dass jedes neue Bild zunächst ein wenig unscharf erscheint, bevor es dann nach etwa einer halben Sekunde den vollen Fokus findet. „Ein toller Retroeffekt“, denke ich. Das ist fast so wie früher als es noch echte Dias gab, die sich in der Wärme des Projektors leicht verziehen und etwas ausbeulen. Doch das leichte Klacken das den Bildwechsel begleitet bringt mich auf die richtige Spur: Das ist nicht Retro, sondern es handelt sich wirklich um analoge Bilder. Und das obwohl wir im Vortrag die achtziger Jahre weit hinter uns gelassen haben.
Die Pause füllen dann wieder belegte Brötchen, Ein-Euro Kölsch und Heldengeschichten, erlebte, vernommene und geplante. Bevor unser Referent wieder im Dunkel des Vortragsraumes verschwinden darf und die Bühne den Bergbildern überlassen, steht er aber noch vor einer Herausforderung. Er soll – selbstverständlich für den guten Zweck- ein Kunstwerk versteigern. Das Gemälde zeigt einen Berg, oder zumindest kann man das was darauf abgebildet ist als Berg bezeichnen. Es könnte aber auch fast jeder andere Gegenstand sein. Ohne die glaubhafte Versicherung der anwesenden Künstlerin, dass es sich um einen Berg handelt, hätte ich noch nicht einmal hier ein Kölsch darauf gewettet. Immerhin: Wenn es ein Berg ist, dann hätte ich jetzt zumindest eine Idee wo bei dem Bild oben und unten sein könnte. Gleiches denkt sich wohl auch der Österreicher auf der Bühne, denn er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Vorzüge der Verpackung. Eine Schutzfolie mit „Plastikblöbbern“, diesen Luftblasen, die heutzutage alles schützen, was es von Ikea zu kaufen gibt. „Wunderschön“, so preist er die kostenlose Dreingabe an, „wenn du in einem Sturm im Hochlager sitzt, und kannst das Zelt für Tage nicht verlassen, dann macht es einen Heidenspaß die alle nacheinander zu zerdrücken“. Das kann ich mir vorstellen, solange ich das Bild nicht mit auf den Berg schleppen muss. Die Werbestrategie geht auf und sowohl Bild als auch Folie finden schnell einen neuen Besitzer.
In der zweiten Hälfte fallen die gewölbten Dias und die anfängliche Unschärfe kaum mehr auf, denn unser Fotograf möchte jetzt zu den meisten Bildern einen erklärenden Satz liefern. Damit bleibt jedes einzelne Bild dann für eine Minute auf der Leinwand stehen. Da es sich um tolle Bilder von noch tolleren Bergen handelt, stört das niemanden. Im Gegenteil, das Kontrastprogramm zum ewig Flackernden unserer Zeit ist so wohltuend wie beruhigend. Am Ende steht neben dem neuerwachten Fernweh die Erkenntnis, dass es durchaus möglich ist, die Zeit zurückzudrehen. Und selbst die Werbeeinheit vom Anfang zeigt ihre Wirkung: „Glaubst Du wirklich ich sollte mir dieses Jahr eine neue Bergsteigerhose kaufen?“, so höre ich ungewollt im Vorbeigehen. Gut, das dieses Jahr noch ganz am Anfang steht.

Hier geht es zur Nippestrilogie Teil 1

Und zum Teil Zwei

Im Veedel. Nippestrilogie Teil 1

Donnerstagmorgens in Köln-Nippes und ich bin spät dran. Trotzdem halte ich noch an der „Kaffeebud“ in meinem „Veedel“ an, ein Kaffee für den Weg zur Arbeit wird mich aufwecken. Vor dem Büdchen steht das Müllauto und darin dann auch die leuchtend orangefarbene Besatzung: drei Müllmänner, die gerade bestellen. Damit rückt die Beute in weite Ferne. Ausgerechnet der Grund, weshalb ich den Morgenkaffee so gerne in dieser Bude kaufe, wird mir jetzt zum Verhängnis, denn hier wird jede Tasse mit Liebe und frisch zubereitet. Ein resignierter Blick auf die Armbanduhr sagt mir: Das wird nichts mehr.

Doch dann nimmt das Schicksal eine unverhoffte Wendung, die so selbstverständlich nur in Köln gelebt wird. Der kleinste der Müllmänner bemerkt meine Zeitnot und fragt bedächtig die beiden Kollegen: „Solle mer dä Schlipsdräger vürlooße?“. Die Zwei drehen sich zu mir um und betrachten mich aufmerksam. Dem einen ist offensichtlich der Werksausweis an meiner Hose aufgefallen, denn seine Antwort lautet: „Dä arbeid beim Ford, de han sich allemol god benomme“. Damit ist die Sache positiv beschieden und ich stehe schon Sekunden später mit einem heißen Pappbecher vor dem Büdchen. Natürlich: Das Ganze kostet mich vier Kaffee, ein kleiner Preis für das Wissen in einem Viertel zu wohnen in dem „Drenk doch eine met“ nicht nur ein Karnevalslied ist, sondern gelebte Gastfreundschaft bedeutet.

Sicher, gelegentlich übertreibt es der Kölner auch mit seiner Liebe zum „Veedel“. So wie am Abend im „Osters Rudi“, eine dieser Kölner Eckkneipen wo jeder am richtigen Platz ist, der nicht die Einsamkeit sucht. Auch ich werde »direk« angesprochen: „Wo küss do dann her?“ so eröffnet einer der Thekenbrüder die Konversation. „Aus Nippes“, antworte ich wahrheitsgemäß und nach meiner morgendlichen Kaffeebegegnung nicht ohne Stolz. „Dat es ald klor, ävver vun wu?“
Sicher, wer in der schönsten Stadt der Welt lebt, ach was sage ich des Universums, der muss sich über sein Stadtviertel, oder besser Stadtsechzehntel, von den anderen Privilegierten abheben. Also kann es im Osters Rudi natürlich niemals »Neppes« heißen, sondern immer nur »Sechzigveedel«. Die Frage gefällt mir – immerhin wohne auch ich im Sechzigviertel – aber überzeugend ist sie nicht. Denn spätestens durch Herrn Adenauer weiß jeder Kölner: Sibirien beginnt erst hinter Deutz und nie und nimmer bereits an der Neusser Straße.

Manche Menschen behaupten, unsere Stadt sei keineswegs schön anzusehen. Kein echter Kölner wird bestreiten, dass es Städte gibt, die adretter aussehen. Wahre Schönheit kommt jedoch von innen und offenbart sich allein demjenigen, der den Schritt wagt zu leben und nicht nur zu betrachten. Wenn die Bläck Föös ihre Vorgärten gepflegt hätten, anstatt Lebensweisheiten in Liedern zu verpacken, dann könnte diese Stadt vielleicht ansehnlicher sein. Und würden die Müllmänner Straßen kehren, anstatt mich vorzulassen, vielleicht auch ein wenig sauberer. Trotzdem, alle die hier wohnen wissen eines genau: Schöner ist Köln eindeutig so, wie es ist. Und bekanntlich is es da am schönsten, wo es schön ist.