Nordlicht Teil 2: Abisko

»Du hast ein tolles Zimmer, aber es ist noch nicht fertig.«, so begrüßt mich die junge Dame an der Rezeption. Macht nichts, denn die Sonne scheint und ich will raus in den Nationalpark, bevor sie untergeht. Das ist einer der Vorteile von Lappland im Winter, du wanderst von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang und danach bleibt noch reichlich Zeit übrig um etwas anderes zu unternehmen. Also frage ich, wo ich mein Gepäck unterstellen darf. Nachdem ich am Morgen auf dem Blankeis am Bahnsteig unbequeme Bekanntschaft mit dem hartgefrorenen schwedischen Boden gemacht habe, möchte ich gerne ohne Rucksack laufen. Auch wenn der beim Fallen den Hintern polstert.
»Kein Problem, wir haben einen Gepäckraum und ich mache ihn Dir gerne auf«, zwitschert sie und weist mir den Weg, während sie hinter sich auf einen Knopf drückt.
Am Ende des Ganges finde ich den gesuchten Raum, dank des Knopfdrucks an der Rezeption steht seine Tür offen. So weit so gut, doch als ich hineinschaue, sinkt meine Laune schlagartig. Die Kammer sieht aus, als hätte Globetrotter zwei mittelgroße Filialen in einen Container gestopft. Bis zur Decke stapeln sich Schuhe, Rucksäcke, Skibretter, Rollkoffer und Daunenjacken. Gerade rechtzeitig bevor die ersten Koffer auf mich einprasseln, kann ich die Türe wieder zuschlagen. Dann laufe ich zurück zum Empfang, um die Dame zu warnen. »Lawinenwarnstufe fünf« sage ich ihr, und zeige den Gang hinunter. Sie nickt wissend, das kommt wohl häufiger vor und sie verspricht die nähere Umgebung des Raumes zu sichern. Damit verschwindet sie in ihrem Büro.
Ob sie die Bergwacht alarmiert oder vor mir flüchtet, bleibt offen, ich jedenfalls stehe ohne Asyl für meinen Rucksack da und die Sonne wandert unbeeindruckt dem Horizont entgegen. Ich brauche eine Lösung, und zwar schnell. Erneut rettet mich die Schwitzhütte. Ich folge einem Pfeil, der die Treppe hinunter deutet, darunter das Wort »Sauna«. Wie erhofft finde ich einen verwaisten Umkleideraum, von einer einsamen Unterhose der Marke »Pfadfinderzelt« am Kleiderhaken und einem Paar Adiletten unter der Bank einmal abgesehen. Ein sicherer Ort für meinen Rucksack, Diebe lassen sich besser an der Rezeption den Gepäckraum öffnen, da gibt es mehr Auswahl und keine Treppen.
Ich krame noch die langen Unterhosen heraus, dazu Daunenjacke, Handschuhe und Wollmütze. Der Besitzer der Zeltunterhose tritt nackt aus der Sauna, ein schöner Gegensatz. Aber die Sauna muss warten, das Fjäll ruft. Der Schnee ist hartgefroren, so dass ich ohne Schneeschuhe wandere. Nur an den kurzen Steilstücken ist es rutschig, dort stehen praktischerweise kleine Birken mit kräftigen Stämmen zum Festhalten. In der Ferne rumpelt ein Erzzug in Richtung Narvik, dann herrscht einfach Stille, abgesehen vom Knirschen meiner Schuhe auf dem Schnee.
Nach einer halben Stunde verlasse ich den Weg und laufe querfeldein, es macht keinen Unterschied. Endlos erscheint die Landschaft um mich herum; eintönig und spannend. Weißer Schnee, braune Birken, schwarze Felsen, blaues Eis und im Hintergrund die altgedienten hügeligen Berge. Darüber ein Himmel, der im Eiltempo vom Morgenrot zur blauen Stunde wechselt.
Eisiger Wind wechselt mit frostiger Stille. Klein fühle ich mich zwischen diesen Kräften, aber auch entspannt. Hier bin ich dem Fjäll ausgeliefert, ein Besucher für einen kurzen Moment, der nichts verändern wird, nichts verändern kann und deshalb nur staunt. Mit dem letzten Abendrot kehre ich hungrig, frostig und mit weitem Herzen zurück ins Camp.
Das Rentiersteak wird gerade serviert, als ich zum hundertsten Mal auf mein Handy schaue, die Livecam hilft bei der Suche nach dem Polarlicht. Und statt des gewohnten schwarzen Bildes mit ein paar Sternenflecken ist plötzlich alles leuchtend grün. Die Bedienung schaltet schneller als ich: »Wir nehmen das zurück und sie können dann später weiteressen«. Sie weiß, dass alle hier sind, um das Polarlicht zu sehen, auch wenn die wenigsten es offen aussprechen. Die Natur, die Landschaft, die Einsamkeit (in einem Haus mit dreihundert Touristen), den Norden; all das listen die Besucher an Gründen auf, gefolgt von dem bescheidenen Nachsatz: »und Polarlicht wäre auch schön«. Das ist schlau, denn nicht umsonst heißt es Jagd nach dem Polarlicht. Vieles muss zusammenpassen, hohe Sonnenaktivität im Vorfeld, klarer Himmel, möglichst Neumond, Dunkelheit und der richtige Ort. Es ist eben ein Naturphänomen. Jetzt gerade passt alles zusammen, da müssen mein Magen und das Rentier durch.
Jacke, Mütze und Handschuhe liegen griffbereit, das Handy sowieso und weniger als eine Minute später stapfe ich durch den Schnee in die dunkelste Richtung, die ich finde. Den Blick gebannt nach oben gerichtet, kollidiere ich mit dem ein oder anderen Baum oder Touristen. Ich entschuldige mich freundlich bei beiden und merke erst, wenn ich eine Antwort bekomme, ob es ein Mensch war. Kaskaden von leuchtendem Grün am Nordhimmel, von dort spannt sich ein gewagter Bogen über die Berge, der nach wenigen Sekunden in fallende Fahnen übergeht. Eine kurze Pause, dann steigt das Licht in Fackeln aufwärts, gelb und lila an den Rändern. Grün dominiert den Himmel, aber es ist nicht so sehr das Licht, das mich in seinen Bann schlägt, sondern seine Bewegung. Ein anmutiger Tanz mit unvorhersehbarer Choreographie. Wirbel um unsichtbare Achsen folgen auf gewagte Salti und Abstürze aus großer Höhe.
Zwischendurch stürze auch ich auf dem dunklen Weg, aber der Schnee ist weich und ich bleibe gleich liegen. Keine Sekunde des Spektakels will ich verpassen und vom Boden ist die Sicht nicht schlechter. Ich erinnere ich mich daran, dass ich atmen muss und auch daran, dass ich Bilder machen wollte. Gerade rechtzeitig, denn so schnell wie es begann, ist das Schauspiel nach zwanzig Minuten vorüber. Nur ein grünes Nachglühen erinnert an den famosen Auftritt. Ohne weitere Kollisionen laufe ich noch eine halbe Stunde durch den verschneiten Wald, erst dann bin ich bereit für den Rest der Welt und das Rentiersteak. In dem Moment als ich den Nachtischlöffel aus der Hand lege, beginnt draußen der zweite Akt.
Ein Verleger würde die Natur hier rügen, kaum hat die Geschichte begonnen, da serviert sie das Highlight? Und hat danach nichts mehr zu bieten? Doch dem Handwerk der Natur sind, die Regeln der Menschen gleichgültig. An den beiden folgenden Tagen liefert sie Schnee, Wolken und bedeckten Himmel. Die wundervoll wissenschaftliche Polarlicht-App sagt mir nur, was ich sehen würde, wenn es keine Wolken gäbe. Und dennoch trete ich nach Sonnenuntergang ständig vor die Tür, um sicherzugehen, dass ich nichts verpasse. Stelle mir jede Nacht zwei Wecker, für die Momente an denen es eine Wolkenlücke geben könnte. Der Lohn der Mühen sind kalte Füße, unausgeschlafene Vormittage und grüne Schimmer am Nachthimmel. Überraschenderweise stört mich das wenig, denn ich habe es ja bereits gesehen. Und als hätte er doch auf den nörgelnden Verleger gehört, serviert der Himmel am letzten Abend ein Dacapo. Was zuvor in großen Bahnen leuchtete, kommt jetzt in schmalen Fackeln, schneller, feiner, aufgeregter und nicht minder faszinierend; diesmal ohne Kollisionen am Boden.

»Der Zug nach Kiruna und Lulea fährt heue pünktlich von Gleis 1«, so schallt es durch den Schneesturm auf dem Bahnhof. Keine sonderlich originelle Ansage, es sei denn, man bemerkt, dass es nur ein Gleis gibt. Auf Wiedersehen, Abisko, selten habe ich an einem Ort so wenig getan und so viel erlebt.

Nordlicht Erster Teil: Kiruna

Nördlich des Polarkreises existieren im Winter nur zwei bedeutsame Orte, Natur und Sauna. Den Aufenthalt im Freien begrenzt der Frost, die Hitze der Sauna lässt sich trainieren. Also brauche ich ein Schwitzbad um den Schock der Ankunft in Kiruna zu verarbeiten. Die Stadt draußen lässt es sich nur schwer ertragen und das nicht aufgrund der Kälte.
Kiruna hat sich seit meinem letzten Besuch aufgespalten, der Preis für den Erzbergbau. Eine neue Stadt ist entstanden, auf halber Strecke zwischen dem Flughafen und dem bisherigen Standort. Glas, Stahl, Beton, und hohe Häuser, eine Bewerbungsmappe für Architekturpreise. Das »alte« Kiruna – ist vergreist und zusammengeschrumpelt. Die Weihnachtsbeleuchtung versucht tapfer, Leben und Zukunft vorzugaukeln, und wirkt dabei wie ein blinkendes Beatmungsgerät. Meinen Spaziergang breche ich bald ab, sterbende Städte sind kein schöner Anblick. Und doch bin ich mir sicher: Die Seele des Ortes steckt hier im alten Kiruna. Ob sie umzieht weiß niemand, auch nicht wohin, aber sie wird die Letzte sein.
An der Rezeption begrüßt mich eine Frau um die Zwanzig, sie trägt einen Beanie über den roten Haaren und ein Tattoo oberhalb der linken Augenbraue. »Devoted« steht dort in großen schwarzen Lettern. Die Message passt auf jeden Fall zu der Form. Und zum Norden, die raue Welt lässt wenig Raum für subtile Hinweise. Was zu sagen ist, sagt man sich ins Gesicht. Oder schreibt es direkt drauf.
Ich hatte die Wahl, ein optimiertes Hotelzimmer in der neuen Stadt für mich alleine oder ein Bett im Schlafsaal für Männer hier in einem der Holzhäuser des alten Kiruna. Jede knarrende Diele erinnert mich daran, dass ich richtig entschieden habe. An der Theke, die sich den Platz mit der Rezeption teilt, sitzen drei junge Männer, auch sie tragen alle eine Mütze auf dem Kopf, irgendwie fühle ich mich nicht komplett angezogen.
Der Männerschlafsaal bietet, was ein guter Schlafsaal bieten muss, sechs Betten im klassischen Doppelstock, sechs kleine Schränke, drei Lampen, drei Steckdosen und wenig Gerüche. Dazu ein Holländer, der sich mit Handy und Kopfhörer vom Rest der Welt – der gerade aus mir besteht – getrennt hat. Kein Grund zum Verweilen, mutig beziehe ich eines der oberen Betten und folge den Schildern in Richtung Sauna.
Beim Öffnen der Tür strömt mir wohlige Wärme entgegen, ein gemütlicher Vorraum, Sofas an den Wänden, Tische davor, ein Stapel weißer Handtücher, ein Kühlschrank, Haken für die Kleidung und eine Glastür, die zur Sauna führt. Mehr braucht es nicht. Außer vielleicht einer Dusche und einer Toilette. Die Dusche ist schnell gefunden und genutzt. Die Toilette finde ich genauso schnell, nur benutzen mag ich sie nicht. Nicht weil sie nicht sauber wäre, das Haus und alles darin ist zwar alt aber makellos sauber. Die Lage ist es, die mich stört, das Pissoir steht vor der Sauna, genauer gesagt gleich vor deren Panoramafenster. Wenn man sich davorstellt, schaut man direkt hinein, zwei Männer und eine Frau sitzen entspannt auf den Saunabänken. Die Aussicht von drinnen mag ich mir gar nicht vorstellen. Hoffentlich baut dass im neuen Kiruna keiner nach.
In der Sauna werde ich auf Schwedisch mit großem Hallo begrüßt und halte eine kalte Dose Bier in der Hand, bevor ich verstehe, worum es geht. Die Schweden wechseln zu Englisch, als sie die Fragezeichen in meinen Augen erkennen. Es sind drei Geschwister und sie brauchen Hilfe bei ihrer Saunatradition. Dabei wird vor dem Saunagang der Aufgusseimer mit eiskaltem Wasser und einem Sixpack gefüllt. Die Regel ist so einfach wie streng: Keiner verlässt die Sauna, bevor die Dosen leer sind. Ich helfe gerne.
Als wir wieder im Vorraum ankommen sitzt dort die tätowierte Frau mit den drei Typen von der Bar. Es war nichts los, also haben sie zugesperrt und sind zum gemütlichen Teil des Abends übergegangen. Vor Ihnen steht ein Dutzend Weinflaschen, alle geöffnet und halbleer. Gestern war eine Gruppe dänischer Touristen zum Essen hier, erklären sie mir und es ist offensichtlich, dass die Beziehung der Schweden zu ihren dänischen Nachbarn kompliziert ist. So begründen sich auch die Weinflaschen. Die unverständlich nuschelnden Dänen aus ihrem lächerlich kleinen Land haben viel getrunken. Das schwedische Team des Restaurants dafür bereitwillig neue Flaschen geöffnet, reich sind sie ja die Dänen. Aber nicht trinkfest, gerade als die Stimmung bestens war, sind die Besucher in ihre Betten gekrochen. Ihre dicke Rechnung haben sie bezahlt, die Flaschen zurückgelassen. Der finale Beweis dass mit den Dänen irgendwas nicht stimmt. Aber deswegen ist es heute gemütlich.
Wir setzen wir uns dazu, Gläser und Flaschen werden herumgereicht und ich lausche dem Gespräch in Schwedisch. Nichts entspannt mehr als eine freundliche Unterhaltung in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Die einen tragen auch hier ihre Mützen, die anderen ein winziges Handtuch. Höflich wie sie sind, werde ich bald auf Englisch einbezogen. Ich frage nach den Mützen, ja das sei normal, sie immer zu tragen. Zum Beweis nimmt die Rezeptionistin ihren Beani ab. Ihre Haare sind nur an den Seiten rot. Oben zu färben lohnt sich nicht, das sieht unter der Mütze niemand.
Wir reden über den Umzug der Stadt, in zehn Jahren soll er abgeschlossen sein. Auch das Hostel steht nur noch hier, weil es zur Zeit kein Baumaterial gibt. Das neue Gebäude sollte bereits vor Monaten fertig sein. Jetzt leben sie von Tag zu Tag, nächsten Monat kann es soweit sein, oder im Sommer. Jedenfalls noch in diesem Jahr, die Ungewissheit nervt. Vier Menschen in der Runde sind in Kiruna geboren und möchten hierbleiben. Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust, der Umzug fällt schwer, doch sie wissen auch, dass es ohne das Eisenerz kein Kiruna geben würde. Wer im Tourismus arbeitet verdient nur halb so viel wie im Bergbau, also wechseln sie ab. Den Sommer in der Mine, den Winter im Hotel, ihre Freunde machen es genau andersrum.
Sie sind jung, da ist es okay, ihren Eltern fällt es schwerer. Dennoch haben sie Angst, denn die Bergbaugesellschaft hat sich vertan. Auch die neue Stadt könnte den Baggern anheimfallen, sie steht ebenfalls auf einem Erzflöz. Bis 2060 ist der neue Standort sicher, solange garantiert es die Erzfirma. Dann muss Kiruna abermals umziehen, vielleicht ja wieder zurück an den alten Platz, so träumen die jungen Nordländer. »Am besten packen wir die ganze Stadt auf Räder, damit wir sie hin und her schieben können.«, schlägt einer vor und hebt sein Weinglas, »dann kommen noch mehr dänische Touristen.«

Ein besonderer Tag – Teil 2 der Sierra-Trilogie

„War das vielleicht der 21. Juni?“ Manches Rätsel löst sich erst nach langer Zeit.
Wir sitzen in einer der neunhundert Berghütten Neuseelands und philosophieren über das Gepäck, oder vielmehr sein Gewicht, ein unerschöpfliches Thema für alle Wanderer. In der Runde bestimmt das Heimatland die Schwere des Rucksacks. Israel, Deutschland, USA und Neuseeland, so lautet die Gewichtsrangfolge der vertretenen Nationen. Während die Kiwis ultraleicht reisen, tragen die Israelis alles im Rucksack, was der Staat Israel hergibt, inklusive eines Wollpullovers von jedem Schaf aus Abrahams Herde.
Die Amerikaner agieren wie immer hilfsbereit und sparen nicht mit Vorschlägen zur Gewichtsreduktion. Nur das Nötigste einpacken und davon die Hälfte zurücklassen. Die Wolle gegen Fleece eintauschen, die Nahrung dehydrieren und der Zahnbürste den Stiel absägen. Die Kiwis und wir ergänzen die Vorschlagsliste und Gramm für Gramm reduziert sich mit jedem Beitrag die Last der Israelis. Als wir bei gefühlten acht verbliebenen Kilos ankommen, trocknet der Ideenfluss langsam aus. Danach wird es entweder gefährlich, sehr teuer oder abstrus. Doch genau da wird der Dialog spannend, denn der Mangel an guten Ratschläge schafft Raum für das „Wanderlatein“, die unwahrscheinlichen Geschichten die nur in Berghütten wahr sein können.
Ich bin mutig und wähle für meinen Beitrag eine Episode aus der Heimat der Amerikaner, Juni in der Sierra Nevada in Kalifornien und auf dem John Muir Trail ist die Schneeschmelze in vollem Gange. Oben herrscht Sommer, auf dem Boden regiert noch der Winter. Der Vorteil dieser Jahreszeit: Es sind nur wenig Menschen unterwegs, der Nachteil: Die Flüsse sind randvoll und schwer zu furten. Anderen Wanderern sind wir noch nicht begegnet, eiskalten Flüssen dagegen schon sehr hautnah und hüfthoch. Doch jetzt schreitet uns der erste Wanderer entgegen. Ein typischer „Thruhicker“, mit dem Gang eines Menschen der entschlossen ist von Mexiko bis zur kanadischen Grenze zu laufen und von den viertausend Kilometern Strecke schon ein gutes Drittel absolviert hat. Er trägt die übliche Wanderausrüstung: stabile Schuhe mit Wandersocken, Stöcke, Sonnenhut und –brille sowie einen Rucksack mit Hüftgurt. Das ist aber auch alles, ansonsten ist er … nackt! Allein ein dritter Wandersocke baumelt an strategisch bedeutsamer Stelle von seinem Hüftgurt.
Die PCT-Wanderer sind ein ungewöhnliches Völkchen, aber auch die laufen normalerweise nicht im Geburtskostüm durch die Berge. Mir kribbelt es schon bei dem Gedanken, an welchen Stellen ich am Ende eines solchen Wandertags überall Sonnenbrand behandeln müsste. Getreu der amerikanischen Höflichkeit und dem kölschen Grundsatz „Jede Jeck es anders“, erwähnen wir den offensichtlichen Mangel an Bekleidung nicht. Der Mann ist sichtbar gut in Form und in keinerlei Notlage. Wie vermutet, ist er einer der ersten, die in diesem Jahr über die Pässe gekommen ist. Da jetzt ein Weg gespurt ist werden ihm noch einige folgen. Uns ist es recht, denn die Fußspuren werden auch uns zugutekommen.
Nach kurzem Austausch über Wegbedingungen (schwierig) und Wetteraussichten (bestens), folgen wir jeweils unserem Weg. Beim Blick auf den Höhenmesser – 3500 Meter – stellt sich aber dann doch die Frage: Warum läuft einer nackt durchs Hochgebirge? Eine Protestaktion gegen die teure Outdoorbekleidung? Verständlich wäre es, wo doch inzwischen jeder Zweite mit einem Outfit durch die Fußgängerzone läuft, das für die Besteigung des Mount Everest entwickelt wurde. Vielleicht wollen die Wanderer aber einfach nur Gewicht sparen: Leichter als des Kaisers neue Kleider geht nicht.
Jedenfalls ist es ein wundersamer Rollentausch, wo doch wir Deutschen – nach Meinung der Amerikaner – stets nach einem Grund suchen uns die Kleider vom Leib zu reißen. Ich kann mich noch gut an die Sauna in einem amerikanischen Flughafenhotel erinnern. Ich saß alleine auf der mittleren Bank, als vor dem Fenster ein Gesicht auftauchte. Bevor ich freundlich reagieren konnte, verschwand der Besucher aber bereits wieder. Dafür stand keine zwei Minuten später ein Manager des Hotels in der Saunakabine, korrekt gekleidet mit glänzenden Schuhen und dunklem Zweireiher. „You are not naked, aren’t you?“ sprach er mich keineswegs unfreundlich an.
In großer Hitze funktioniert mein Gehirn etwas langsamer und der Sinn der Frage wollte sich mir nicht erschließen. Die nackten Tatsachen waren eindeutig, schließlich saß ich in einer Sauna. Nach einigem Nachdenken wurde mir klar, dass der Mann nicht ernsthaft nach einer Antwort auf seine Frage suchte. Andererseits fand ich es amüsant zu beobachten, wie sich allmählich die Schweißperlen auf seiner Stirn sammelten und von dort gemächlich auf die Hochglanztreter tropften. Ich dachte mir: „Das ist der richtige Moment, um zu vergessen, dass ich Englisch spreche“, und antwortete betont höflich mit einem langen, geschachtelten deutschen Satz. Der Inhalt spielt dabei keine Rolle. „Erdbeermarmelade“ kam darin vor, weil das Wort schön freundlich klingt. Jetzt war das Hirn des Hotelmanagers mit dem Arbeiten an der Reihe: „Verschwitze ich hier weiter meinen Anzug und verstehe nichts, oder trete ich den Rückzug an?“
An seinen Augen konnte ich keine Reaktion ablesen, denn ihr Blick ruhte etwa dreißig Zentimeter über meinem Kopf an der Wand. Dort gab es nichts zu sehen, aber seine Erziehung verbot ihm, auch nur einen Millimeter tiefer zu schauen. Meine Augen dagegen wanderten von seinem Scheitel bis zu den Ledersohlen und genossen es, den Leidensdruck beim Wachsen zu beobachten. Schließlich drehte er sich ab, griff sich eines der Handtücher um Gesicht und Anzug zu trocknen und verschwand brummelnd um die Ecke. Auch ich räumte das Feld, die Hauptattraktion dieses Saunaganges hatte ich genossen.
Umso mehr verwundert mich jetzt der nackte Wanderer in den Bergen und obendrein sollte es nicht der Einzige bleiben. Um die Mittagszeit rasten wir nach einer Flussdurchquerung, als die nächsten Nackten auftauchen, diesmal ein junges Pärchen. Während wir den Fluss auf die europäische Art gefurtet haben – Wanderschuhe aus, Gummischuhe an und halbes Adamskostüm – stürzt sich das Pärchen auf amerikanische Weise in den Fluss – Schuhe an den Füßen, Hüftgurt geöffnet und die Arme gegenseitig auf den Schultern überkreuzt. Gemeinsam schreiten sie dann flussaufwärts durch die Strömung und bieten ein schiefes Bild, denn sie ist deutlich kleiner als er.
Nach der guten Hälfte des Weges, die Hüfte der Frau ist bereits wieder aus dem Wasser aufgetaucht, gerät sie ins Straucheln. Sie kämpft im strudelnden Wasser um das Gleichgewicht, ihr freier Arm sucht dringend einen Halt an der Vorderseite ihres Partners. Viele Möglichkeiten bieten sich nicht, wie gesagt das Wasser ist eiskalt. In ihrer Not greift sie beherzt zu. Wäre sie etwas größer, dann hätte sie vielleicht das Ende seines Hüftgurtes erwischt. So aber schallt der markerschütternde Schrei des Mannes durch das Tal und meine Liste an Gründen gegen das Nacktwandern wird um einen entscheidenden Eintrag länger.
(der 21. Juni ist „Hike Naked Day“, am längsten Tag des Jahres lassen die prüden Amerikaner die Hüllen fallen, allerdings nur fernab jeglicher Zivilisation)

Volles Haus

Beschämt zur Seite blicken ist die Sache der Nepalesen nicht, hier ist das Zuschauen erlaubt, in jeder Situation. Und wer will es ihnen verdenken, in einem Ort, der keinen Fernseher kennt und der höchstens einmal im Jahr Touristen erblickt. Wenn der Tourist dann auch noch blond ist und fast doppelt so lang wie der größte Einheimische, dann begleiten ihn braune Augen auf allen Schritten.

Das ist nicht weiter schlimm, denn es gilt natürlich gleiches Recht für alle und auch ich schaue mir gerne die Menschen an. Obendrein ist auf einer Trekkingtour im Himalaya nicht viel zu verbergen. Jeder Tag folgt demselben Muster aus Laufen, Essen und Schlafen! Und danach das Gleiche wieder von vorne. Wer diese Entspannung noch nicht erlebt hat, dem erscheint die Regelmäßigkeit vielleicht monoton.

Allerdings gibt es dann doch den einen oder anderen Moment, den ich lieber ungestört verbringen möchte. So führen das regelmäßige Essen und die regelmäßige Bewegung auch zu einer sehr regelmäßigen Verdauung. Gleich am Morgen nach den unvermeidlichen Frühstückseiern fordert die Natur ihr Recht, so auch heute in einem kleinen Bergdorf.

Die aufmerksamen Nepali verstehen mein Bedürfnis sofort und leiten mich gemeinsam und nicht ohne etwas Stolz zum Toilettenhaus. Schlagartig verstehe ich, wie sich Gandalf auf Besuch bei den Hobbits fühlt. Das Bauwerk ist aus massivem Stein errichtet aber nur einen Meter fünfzig hoch. Ich bücke den Oberkörper durch die Tür und scheitere beim Versuch mich drinnen wieder aufzurichten am Dachbalken. Ein Nachteil der dicken Steinwände: der Innenraum ist noch viel kleiner als die Außenmaße vermuten ließen.

Immerhin kann ich derart gebückt bereits einen guten Blick auf die Sanitäreinrichtung werfen: sauber und eindeutig gehobener Standard. Eine Keramikkachel auf dem Boden umrahmt das obligatorische Loch und ein Wassereimer zur Linken mit einer Schöpfkelle aus Plastik vervollständigen das Inventar. Das Highlight der Ausstattung ist fließendes Wasser. Die Hütte steht strategisch klug neben einem Gebirgsbach und über ein kleines Rohr sprudelt das Wasser munter in eine Tonne. Die deutsche Industrienorm gilt hier nicht, sonst müsste die Wassertonne für jeden Zufluss auch einen Abfluss besitzen. So läuft der Eimer einfach über, und fungiert – da die Hütte leicht geneigt am Hang steht – als Spülkasten im Dauerbetrieb.

Das Problem: Bei meiner Körperbreite spült der Eimer nicht nur den Boden, sondern auch mich, sobald ich zwischen ihm und der Wand hocke. Heute Morgen jedoch habe ich Glück, der letzte Besucher hat ausgiebig Gebrauch von der Schöpfkelle gemacht und daher steht das Wasser noch deutlich unter dem Tonnenrand. Für geschätzte fünf Minuten wird der von mir angestrebte Platz über der Kachel noch trocken bleiben. Ein weiterer Grund mich schnell an das unvermeidliche Werk zu begeben.

Dazu müsste ich allerdings mein Hinterteil zur Kachel ausrichten, der Versuch scheitert jedoch ebenso wie zuvor das Aufrichten. Für eine Körperdrehung ist die Hütte schlicht und ergreifend zu eng. Ich brauche einen Neustart, verlasse die Hütte und versuche es aufs Neue, diesmal rückwärts. Dabei kann ich dann auch gleich einen Blick auf die inzwischen deutlich gewachsene Zahl an Zuschauern werfen. Sie sehen sehr zufrieden aus mit dem, was ihnen bisher geboten wird. Diesmal komme ich deutlich näher an das Ziel, auch wenn das Rückwärtsgehen in der tiefen Hocke nicht meine beste Disziplin ist.
In der angestrebten Position angekommen, stehe – oder besser gesagt hocke – ich allerdings vor dem nächsten Problem: meiner Hose. Die muss naturgemäß nach unten, doch zwischen dem engen Gemäuer, der dicken Daunenjacke und den angewinkelten Knien existiert für sie kein Weg. Ich muss wieder raus und einen dritten Anlauf versuchen, sehr zur Freude meiner Zuschauer.

Langsam wird die Zeit knapp und das nicht nur wegen des steigenden Wasserpegels in der Tonne. Um etwas Raum zu gewinnen, hänge ich die Daunenjacke außen an die Hütte und mache mich wieder daran rückwärts einzuparken. Diesmal im synchronen Rhythmus: Der Körper muss rückwärts in die Hütte gefaltet werden und die Hose gleichzeitig nach unten geschoben, Zentimeter für Zentimeter. Die Strategie ist erfolgreich und ich kann mich den Dingen widmen, für die ich gekommen bin.

Natürlich würde ich gerne vorher noch die Tür schließen, die aber geht nach innen auf, also muss sie offenbleiben. Man kann im Leben nicht alles haben und sollte auch nicht nur an sich selbst denken: Meine Zuschauer sehen der Fortsetzung des Programms gespannt entgegen. Ich würde deutlich mehr als einen Groschen für ihre Gedanken geben. Und auch ich kann am Ende von der offenen Tür profitieren, denn das Toilettenpapier befindet sich in der Tasche meiner Daunenjacke. Gut, das mein Kopf aus der Tür hinausschaut, so können meine Augen um Hilfe bitten. Ein mutiger Junge läuft vor und reicht mir die Jacke, so eben noch rechtzeitig, bevor die Wassertonne überläuft.

Das obere Paradies – Teil 1 der Sierratrilogie

Wir residieren im oberen Paradies. Das untere Paradies ist zugeschneit und das mittlere fest in den Händen der Maultierhirsche. Abgesehen davon: Paradies hin oder her, wer stellt schon sein Zelt in das Souterrain, wenn das Penthouse frei ist.
Die Sierra Nevada in Kalifornien ist in diesem Frühsommer zweigeteilt, die Luft sommerlich heiß und der Boden noch von tiefem Schnee bedeckt. Entsprechend anstrengend ist das Wandern, „potholing“, also Höhlensuchen nennen es die Amerikaner. Der weiche Schnee trägt nicht mehr, und selbst wenn der Wanderer keine Höhle findet, sinkt er bei jedem zweiten Schritt plötzlich bis zur Hüfte in den Schnee.

Dann beginnt der Befreiungsversuch, mit Trekkingstöcken in der Hand und schwerem Gepäck auf dem Rücken, entscheidend ist die Wahl der Technik. In der Manier eines Ninjakämpfers, seitwärts abrollen und dann versuchen die Füße aus dem Loch zu ziehen? Nach der Kuhmethode – das Gesicht in den Schnee und mit dem Kopf als Gegenwicht den Hintern hochschieben? Oder aber wie ein Maikäfer auf dem Rücken. Darin bestehen im Wesentlichen die Optionen und in zwei Dingen unterscheiden sie sich nicht: Alle treiben reichlich Schweiß und definieren das Gegenteil von elegant.

Also beenden wir die Wanderung beizeiten, unsere Ausrüstung und wir selbst sollen noch in der Abendsonne trocknen. Der Zeltplatz mit dem paradiesischen Namen ist auch zu schön, um daran vorbeizugehen. Sogar trockenes Feuerholz liegt in einer hohlen Baumwurzel bereit und schnell hilft ein Lagerfeuer der Sonne bei der Arbeit. Andere Menschen leben nicht in diesem Paradies, vielleicht existiert ja für jeden ein eigenes.

Bisher dachte ich immer, Kolibris seien Vegetarier, die freundlich an Blumen nuckeln. Aber weit gefehlt, im Blütennektar ist zwar reichlich Zucker, aber wenig Eiweiß. Deshalb kommen Mücken auf den Speisezettel und daran mangelt es im Paradies nicht. Harry Potter kommt mir in den Sinn: Wie der goldene Schnatz im Quidditch zischt der Kolibri über mir durch den Abendhimmel. Ich wünsche ihm viel Erfolg, denn jede gefressene Mücke bedeutet einen Stich weniger für mich.

Plötzlich verschwindet der Kolibri, während sich etwas Großes in mein Blickfeld schiebt. Ein Schwarzbär hat unser Lager entdeckt und eilt quer durch den Steilhang auf uns zu. Warum tauchen die Bären immer dann auf, wenn ich keine Schuhe trage? Stehen Bären auf Schweißgeruch? Mir bleibt aber keine Zeit den Gedanken zu vertiefen, denn das Tier steht bereits groß und hungrig vor uns. Auch für die Schuhe fehlt die Muße, barfuß eile ich zum Feuer, werfe reichlich Brennholz nach und greife mir einen brennenden Ast.

So stehen wir uns gegenüber, ich mit einem qualmenden Stock in der Hand und der Bär auf seinen Hinterbeinen. Damit ist dann auch die Anrede geklärt, es handelt sich eindeutig um ein männliches Exemplar. Zum Glück hängt unser Proviant bereits meterhoch an einem Baum in sicherer Entfernung und Menschen stehen nicht auf dem Speisezettel von Schwarzbären. Andererseits: Das dachte ich bis vor wenigen Minuten auch von Mücken und Kolibris.

Kurz treffen sich unsere Augen, dann erinnere ich mich an die Regeln, löse den Augenkontakt und senke den Blick. Was ist das? Das imposante Tier wird plötzlich kleiner. Immer noch regt sich keiner von uns, aber Zentimeter um Zentimeter schrumpft mein Gegenüber. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen, die Gesetze der Physik machen vor niemandem Halt. Dem Bären geht es genauso wie mir zuvor, er steht auf dem Schnee und mit seinem gesamten Gewicht auf zwei Beinen. Die unvermeidliche Konsequenz: Auch er wird von der Schwerkraft auf „Höhlensuche“ geschickt.

Das scheint ihm dann doch unter seiner Würde und – ganz im Gegensatz zu mir – springt er elegant aus dem Loch. Er trollt sich einige Meter abwärts zum Gebirgsbach und beginnt mit der Pfote im Wasser zu rühren. Hoffentlich ist der Bär katholisch, denn heute ist Freitag und der Bach voller kleiner Forellen. Die springen dann auch sofort in heller Aufregung in die Luft, doch auch ihr Stündchen hat noch nicht geschlagen. Meister Petz beschließt, dass diese Forellen erst noch etwas wachsen müssen, bevor sie zum Freitagsmahl taugen. Er verschwindet so schnell, wie er aufgetaucht ist und es herrscht wieder Ruhe im oberen Paradies.

Die pedantische Packliste

Auch ein guter Kunde ist dem Verkäufer nicht immer gute Kunde. „Das ist doch nicht durchdacht, die Stirnlampe benötigt drei Batterien, kaufen muss ich die im Viererpack und dann bleibt eine übrig!“ Der Verkäufer bleibt erstaunlich gelassen und fährt einfach fort die Vorzüge des Produkts für die Anwendung im Himalaya zu beschreiben: gutes Licht, zuverlässig, geringer Stromverbrauch und auch bei niedrigen Temperaturen und mit Handschuhen leicht zu bedienen. „Aber das Gehäuse ist aus Plastik, wenn es zu nah an die Flamme des Kochers kommt, haben sie nicht etwas aus Metall, das aber genauso leicht ist?“ Der Verkäufer blickt hilfesuchend in die Runde und seine rollenden Pupillen treffen auf meine. Außer einem mitleidigen Blick kann ich ihm aber keine Hilfe schenken.

Wir stehen im größten Outdoorladen Kölns und der Kunde, ein Endvierziger vom Typ notorischer Pedant, ist offenbar gewillt Geld auszugeben. Er sammelt die komplette Ausrüstung für seine Expedition nach Nepal, von der Wandersocke bis zum Eispickel. Die Packliste in seiner Hand verrät mir: er wird sich an das Luxustrekking rund um die Annapurna wagen. Lodgeübernachtung mit Wärmflasche und Rundum-Sorglos Betreuung von Hauser inklusive, quasi Mercedes S-Klasse mit eingebauter Vorfahrt. Für einen kurzen Moment bin ich verwirrt, denn der Papierstapel in seiner Hand ist mindestens zweihundert Seiten dick, doch dann verstehe ich: drei Seiten für die eigentliche Liste und der Rest für Produktbesprechungen aus dem Internet, von seiner Sekretärin fein säuberlich gedruckt und sortiert. Der Mann besitzt mit Abstand mehr Geld als gesunden Menschenverstand.

So verwundert es mich nicht, dass alle Verkäufer vor seinem suchenden Blick hinter dem nächstgelegenen Berg aus Daunenjacken verschwinden und dort ungemein beschäftigt sind. Schlagartig wird mir klar, warum es selten großgewachsene Verkäufer gibt. Allein mein Kopf ragt hinter den Jacken hervor, und so geschieht das Unvermeidliche: „Hier ist gerade keiner! Die haben aber sowieso wenig Ahnung, können sie mir helfen?“ Es macht wenig Sinn ihm zu erklären, warum ihm nicht mehr zu helfen ist.

In seinen Händen baumeln zwei Regenjacken, eine in dezentem Blau, die andere in Baustellengelb; beide mit einem Preisschild das eher zu einem Gebrauchtwagen passt. „Soll ich die mit der dreifachen Membran nehmen oder die mit der den doppelt verdichteten Reisverschlüssen aus Titan, die eine funktioniert nicht, wenn es kalt regnet, die andere versagt in feuchter Wärme?“ Immer positiv denken, schießt mir durch den Kopf, eine Kernkompetenz des Buddhismus. Entsprechend fällt meine Antwort aus: „Ich würde die Gelbe empfehlen, dann findet Dich auch der Rettungshubschrauber.“ Hektisch blättert der angehende Extrembergsteiger durch seine Zettel und findet darin auch die Lösung: „Dafür habe ich Leuchtstäbe, eine reflektierende Kältedecke, ein Satellitentelefon und ultraleichte Nebelkerzen im Gepäck. Die Nebelkerzen waren optional, aber mein Sherpa wird zwanzig Kilo für mich tragen, da ist noch ein gutes Kilo Platz“. Dieser Typ startet auch sein Auto erst, wenn das zulässige Gesamtgewicht erreicht ist. Mögen die Berge und der Buddhismus ihm etwas Gelassenheit schenken und sein Sherpa in der Nähe sein falls ihm doch etwas zustoßen sollte.

An der Kasse treffe ich ihn dann wieder, der Gesamtschaden übersteigt noch den Preis der S-Klasse Reise mit Hauser, aber er verhandelt um jeden Pfennig Rabatt. „Und sie führen wirklich keine Batterien im Dreierpack? Das müssten sie doch anbieten, wenn ihre Lampen drei Batterien brauchen?“ Linda, die Kassiererin kann nicht fliehen, stopft die ganze Ausrüstung schleunigst in gigantische orange Plastiktüten und ignoriert die Frage. „Haben sie noch ein paar Stifte für mich? Sie wissen schon, als Geschenk für die Kinder am Weg, Süßigkeiten sind ja schlecht für die Zähne und wie sagt man so schön: wer schreibt, der bleibt“. Mit einem gequälten Lächeln und letzter Anstrengung schiebt Linda noch eine Handvoll Kugelschreiber in eine der Tüten. „Funktionieren die auch in großer Höhe? Ich gehe doch zum Bergsteigen in das Himalaya.“ Linda ist zu keiner Antwort mehr fähig.

Beladen mit seiner reichen Beute und verfolgt von erleichterten Blicken der Verkäufer marschiert unser Freund in Richtung Ausgang. Dabei stößt er mit Chandra zusammen, einem Verkäufer der in der Tat aus Nepal stammt und der die warnenden Handzeichen seiner Kollegen offensichtlich als Hilferuf gedeutet hat. „Herr Sherpa, gut dass ich sie treffe!“ Immerhin, die erste Begegnung mit einem Nepali führt auch gleich zur ersten positiven Aussage, das scheint auf einem guten Weg. Ob die Freude gegenseitig ist bleibt offen, denn Chandra versteckt seine Emotionen hinter dem asiatischen Pokerface, einem breiten Lächeln und sagt nur „Thik chha“. Das heißt „alles in Ordnung“ und bedeutet es auch, wenn es denn nicht genau das Gegenteil meint.

Der Einkauf fällt zu Boden und unser Pedant breitet seine Beute vor dem immer noch lächelnden Chandra aus. Eispickel, Signalraketen, GPS-Gerät, Schlafsack, Trillerpfeife und die ganze restliche Packliste inkarnieren aus den Tüten. Dann schaut er erwartungsvoll zu Chandra: „Meine Frage an sie als den Experten: Habe ich alles, was nötig ist?“
„Schön, dass sie mein Land besuchen wollen, und danke, dass sie mich um Rat bitten. Aus meiner Sicht: Das sind alles schöne Dinge die sie gekauft haben. Sehr schöne Dinge. Aber wirklich nötig ist nichts davon, … eine Sonnencreme würde ich allerdings empfehlen“

Alpines in Nippes – Teil drei der Nippestrilogie

Ein Event inmitten der Großstadt und das Kölsch kostet einen Euro,… gibt es nicht? Doch bei den Alpinvorträgen des Kölner Alpenvereins. Und das nicht nur als Lockangebot, um dann mit dem Essen abzusahnen, denn auch die belegten Brötchen kosten nicht mehr. Hier ist er, der letzte Hort des Mettbrötchens, frische Zwiebeln kleben wie Gipfelkreuze auf dem Metthügel, welcher seinerseits so unbezwingbar wie die Nordwand des Eigers aus der Brötchenhälfte ragt.
Der Saal ist prall gefüllt mit Menschen, die selbst nach dem Verzehr von zweien dieser Eigermettwände noch vor Energie und Fernweh strotzen. Die Frauen tragen kein Make-up, dafür aber Haare unter den Achseln und Blick auf die Männer verleiht mir zum ersten Mal im Leben das Gefühl, modisch ganz vorne zu stehen. Wer hierher kommt, will sehen, und nicht gesehen werden.
Und reden natürlich, reden von vergangenen und bevorstehenden Exkursionen, Kletterwänden, Besteigungen und sonstigen waghalsigen Tätigkeiten. Deutsch dominiert die Gespräche, oder das was man dort wo die Besucher herkommen dafür hält. Der eine sächselt, die andere schwäbelt. Bayrisches Gebrummel trifft auf Berliner Schnauze. Alle, deren Lebensweg in die Berge durch Köln führt, sind hier versammelt. Auch kölsche Töne sind gelegentlich zu vernehmen, aber der süddeutsche Einschlag überwiegt. Auf jeden Fall lauter Menschen deren Heimat nicht unbedingt an ihrem Wohnort liegt und die wissen wie sie mich aus einer Gletscherspalte bergen könnten. Eine sehr beruhigende Erkenntnis, auch wenn Gletscherspalten in Köln bestenfalls in Druckform auftreten.

Der Referent stammt aus Österreich, ein typisches Exemplar, dem das Schneckensammeln nie gelingen wollte, weil die immer so schnell wegrennen. Auch er ist von den Bergen „desinfektsziert“, insbesondere den Bergen des Himalayas. Nachdem die pfeifende Rückkopplung aus dem Lautsprecher alle Aufmerksamkeit auf ihn gezogen hat, beginnt er mit seinem Vortrag. Das erste Bild zeigt eine Räucherschüssel: „Wann I den Geruch aus dem Inzenstopf in dera Nasen hab, da weisst, dass wieder dahoam bist in die schönsten Berg“. Die meisten seiner Zuhörer wissen genau, wovon er redet und lauschen gespannt.
Doch bereits das zweite Bild ruft großes Tuscheln im Publikum hervor. Es zeigt den Referenten, der sich in Outdoorkleidung an einem Herdfeuer wärmt. Aufgenommen wurde es in den achtzigerer Jahren in einem abgelegenen nepalesischen Dorf. Die Reaktion des Publikums wird aber keineswegs durch das Bild hervorgerufen, sondern vielmehr durch den Kommentar des Referenten: „Wie Sie sehen, hat sich die Mode auch beim Bergsteigen in den letzten dreißig Jahren stark verändert!“
Die Verwunderung, insbesondere des männlichen Publikums, hätte nicht größer sein können, wenn er das Matterhorn nach Deutschland verlegt hätte. „Siehst Du, ich habe es doch schon immer gesagt“, so höre ich weibliches Tuscheln, gefolgt von der männlichen Antwort: „dass muss er doch so sagen, wegen seinem Sponsor“. Damit ist der Modeteil abgehakt und die Berge und ihre Bewohner rücken wieder in den Mittelpunkt.
Nach etwa einer Viertelstunde fällt mir auf, dass jedes neue Bild zunächst ein wenig unscharf erscheint, bevor es dann nach etwa einer halben Sekunde den vollen Fokus findet. „Ein toller Retroeffekt“, denke ich. Das ist fast so wie früher als es noch echte Dias gab, die sich in der Wärme des Projektors leicht verziehen und etwas ausbeulen. Doch das leichte Klacken das den Bildwechsel begleitet bringt mich auf die richtige Spur: Das ist nicht Retro, sondern es handelt sich wirklich um analoge Bilder. Und das obwohl wir im Vortrag die achtziger Jahre weit hinter uns gelassen haben.
Die Pause füllen dann wieder belegte Brötchen, Ein-Euro Kölsch und Heldengeschichten, erlebte, vernommene und geplante. Bevor unser Referent wieder im Dunkel des Vortragsraumes verschwinden darf und die Bühne den Bergbildern überlassen, steht er aber noch vor einer Herausforderung. Er soll – selbstverständlich für den guten Zweck- ein Kunstwerk versteigern. Das Gemälde zeigt einen Berg, oder zumindest kann man das was darauf abgebildet ist als Berg bezeichnen. Es könnte aber auch fast jeder andere Gegenstand sein. Ohne die glaubhafte Versicherung der anwesenden Künstlerin, dass es sich um einen Berg handelt, hätte ich noch nicht einmal hier ein Kölsch darauf gewettet. Immerhin: Wenn es ein Berg ist, dann hätte ich jetzt zumindest eine Idee wo bei dem Bild oben und unten sein könnte. Gleiches denkt sich wohl auch der Österreicher auf der Bühne, denn er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Vorzüge der Verpackung. Eine Schutzfolie mit „Plastikblöbbern“, diesen Luftblasen, die heutzutage alles schützen, was es von Ikea zu kaufen gibt. „Wunderschön“, so preist er die kostenlose Dreingabe an, „wenn du in einem Sturm im Hochlager sitzt, und kannst das Zelt für Tage nicht verlassen, dann macht es einen Heidenspaß die alle nacheinander zu zerdrücken“. Das kann ich mir vorstellen, solange ich das Bild nicht mit auf den Berg schleppen muss. Die Werbestrategie geht auf und sowohl Bild als auch Folie finden schnell einen neuen Besitzer.
In der zweiten Hälfte fallen die gewölbten Dias und die anfängliche Unschärfe kaum mehr auf, denn unser Fotograf möchte jetzt zu den meisten Bildern einen erklärenden Satz liefern. Damit bleibt jedes einzelne Bild dann für eine Minute auf der Leinwand stehen. Da es sich um tolle Bilder von noch tolleren Bergen handelt, stört das niemanden. Im Gegenteil, das Kontrastprogramm zum ewig Flackernden unserer Zeit ist so wohltuend wie beruhigend. Am Ende steht neben dem neuerwachten Fernweh die Erkenntnis, dass es durchaus möglich ist, die Zeit zurückzudrehen. Und selbst die Werbeeinheit vom Anfang zeigt ihre Wirkung: „Glaubst Du wirklich ich sollte mir dieses Jahr eine neue Bergsteigerhose kaufen?“, so höre ich ungewollt im Vorbeigehen. Gut, das dieses Jahr noch ganz am Anfang steht.

Hier geht es zur Nippestrilogie Teil 1

Und zum Teil Zwei

Neuschnee

Fünf Uhr morgens in Hobart, Tasmanien: Wir steigen in einen Kleinbus samt unverschämt gut gelauntem Fahrer. Unser Ziel ist der Overland-Trail im Zentrum der Insel. Es regnet so stark, dass der Scheibenwischer auch im schnellsten Gang nicht nachkommt, aber unser fröhlicher Fahrer beruhigt uns: „Wir fahren nach Norden, da wird es weniger regnen“. Und Recht hat er mit seiner Prognose, im Nationalpark ist es viel zu kalt für Regen, stattdessen fällt hier Schnee in dicken Flocken.
Der Schnee ist dann auch das zentrale Thema der Sicherheitsbelehrung durch die Parkranger, immerhin befänden wir uns mitten im stärksten Schneesturm des gesamten Winters. Kurz überlege ich einzuwerfen, dass der Winter doch seit mehr als zwei Monaten vorüber sei. Doch dann fällt mir der Werbeslogan ein, der überall auf den Prospekten prangt: „Tasmanien, erlebe vier Jahreszeiten an einem Tag“. Spontan beschließe ich zu schweigen.
In ernsten Worten erklärt uns der Parkwächter, dass wir auf dem Weg nach oben noch sehr viel mehr Schnee zu erwarten hätten und mit brusttiefen Schneeverwehungen rechnen müssten. Eine junge Australierin mit einem gigantischen Rucksack fragt dazwischen, was denn überhaupt eine Schneeverwehung sei?
Wahrscheinlich hätte auch sie besser spontan geschwiegen, aber Schnee besitzt in Australien durchaus Seltenheitswert. Auch mir fällt es schwer an brusthohe Schneewehen zu glauben. „Brusttief: vielleicht wenn ich mich auf den Boden lege“, so denke ich still, ein Gedanke der sich noch rächen sollte.
Gut eingepackt in alle Winterkleidung die wir besitzen machen wir uns schließlich auf den Weg, vielleicht klart es ja noch auf und dann sind wir schon oben auf dem Berg. Der Mensch ist ein Meister des positiven Gedankens. Bevor es aber aufklart, treffen wir noch auf das Zentrum des Sturms, Schnee fällt mal in großen, weichen Flocken und dann in kleinen, harten Körnern, knietief liegt er derweil am Boden. Zum Glück ist der Weg mit Stäben markiert, eine dieser Stangen ist meistens noch zu erkennen.
Nach ein paar Stunden treffen wir auf die Australierin mit dem Riesenrucksack, der offensichtlich nicht nur groß, sondern auch schwer ist. Mit jedem Schritt sinkt sie tief in den weichen Schnee. Die Schneewehen durchquert sie auf allen Vieren, Ganzkörperantwort der Natur auf eine unschuldige Frage. Aber auch mein Zweifel an wirklich tiefen Schneewehen wird schnell beantwortet. Nein, brusttief werden sie nicht, dafür ist es zu stürmisch. Aber die Sturmböen sind stark genug mich umzublasen, so dass auch ich meine Ganzkörpererfahrung mit dem Schnee machen darf.
Mit Sicherheit wird es aufklaren aber genauso sicher nicht am heutigen Tag, also stapfen wir weiter durch den Schneesturm, im Wechsel zwischen den verschiedensten Schneesorten. Die Hütte kommt in Sicht als wir mit der Nase gegen das Toilettenhaus stoßen. Nach sehr kurzer Beratung fällt die Entscheidung: Wir übernachten nicht im Zelt sondern in der trockenen Hütte, alleine schon weil wir keinerlei Schaufeln besitzen um die Zeltplattform auszugraben.
Am Ende des Tages ermittelt der Hüttenwart die Anzahl derjenigen, welche die Hütte erreicht haben. Auch wenn sich die Zählung etwas schwierig gestaltet – einige der Anwesenden starren nur noch apathisch vor sich hin, zu erschöpft um ihren Namen zu nennen – kommt er doch zu einem erfreulichen Ergebnis: zwanzig von zweiundzwanzig angemeldeten Wanderern sind angekommen. Dafür dass die meisten heute zum ersten Mal durch Schnee gelaufen sind, eine herausragende Quote.

Not all who wander are lost

Ninety days in the US & Canada, more than sixty of it in our beloved tent and over forty-five in the backcountry that we do love even more. We canoed over forty kilometers, hiked more than one-thousand and drove some more on the road. Saw six bighorn sheep, eight bears, ten moose, twelve eagles and countless deer, marmots and squirrels. And I am not even mentioning the mosquitos. Burned a heap of wood in campfires, gas in our stove and are still wondering if there are more stars in the sky or more trees in the woods? Now that our hiking boots are finished as much as our visa, it is time to try and wrap it up for you.

In Montana the saying is: “Camping without beer is just sitting in the woods”. By this standard we did have some camping, but mostly we have been sitting in the woods. Given the specifics of these woods however, this is perfectly fine. Between the California Sierra Nevada and Mt. Robson in Northern British Columbia we have covered some of the most scenic trails that North America has to offer, some of them have names and are well travelled, others did not only lack a name, but also other people. All of them created more pictures and memories than what our brain could take, let alone write it down here. So let’s make cognac out of the wine and boil it down to one-line:

High Sierra Trail, Sequoia, California: Where the nights are so clear and calm that millions of stars reflect in Lake Colby.

Desolation Wilderness, Lake Tahoe, California: Where we finally crossed the Rubicon, and came back to have lunch on the other side.

Winds River Range, Wyoming: Where the sky is big, but there are still enough mosquitos to fill it.

Teton Crest Trail, Grand Teton NP: Where we felt more alive than ever on “Deadmen’s Shelf”.

Yellowstone NP: Where we roamed with the buffalo through sulfur smoke.

West Coast Trail, Vancouver Islands: A “beach walk” where the whales did (almost) spout on our heads.

Murtle Lake, British Columbia, Canada: Where we gave our legs a break and learned that paddling down a river is easier than across a windy lake.

Mt. Robson, BC/Alberta Canada: Where we learned to never trust a Canadian when he calls a lake “warm” enough to swim in.

Glacier NP, Montana: Where the best huckleberries grow and a bear wanted to share lunch with us. We had to decline the offer however, he wasn’t bringing anything to the table…

In between the backcountry tours, we spend our time meeting some old friends and making new ones; scoring food that was never de-hydrated and using natural hot springs to get us re-hydrated. The only things we lost on the way were a water bottle and a few pounds. The amount of things we gained however are too many to list.

On the northernmost point of our loop, right on top of snowbird pass, we did meet a fellow hiker who is also in a one-year sabbatical. He summarized it properly by stating: “Everyone should be granted the opportunity for a sabbatical in the middle of their career, it is just good”. I could not agree more.

Now we are taking a little break from the discovery work in Fiji. The plan is to stay within hundred yards of the beach we are living on and not to use any other footwear, other than fins to snorkel.

Bula from Fiji

Geschäftliche Begegnung

Fast alles wird einfacher in der Wildnis. Aber eben auch nur fast alles, an manchen Stellen fehlen die Errungenschaften der modernen Zivilisation dann doch, zum Beispiel die Toilette. Ohne die Technik des Wasserklosetts ist ein großes Geschäft keineswegs einfach. Nicht umsonst steht in jedem amerikanischen Outdoorladen das einschlägige Standardwerk: „How to shit in the woods“, welches Technik und Ausrüstung für alle Arten von Wildnis detailreich erklärt.

Eine Million Moskitos die nur auf blanke, unbewegte Haut warten, erweitern den Gang zur Toilette gleichzeitig noch zu einem unfreiwilligen Blutspendetermin. Aber, die Natur fordert ihr Recht und so lasse ich meinen Rucksack am Wegrand zurück und schlage mich mit Papierrolle und einer kleinen Schaufel bewaffnet in die Büsche.

Während ich gerade meine tiefe Hocke perfektioniere und gleichzeitig versuche den Stechmücken Einhalt zu gebieten, höre ich ein Rascheln. Jemand oder etwas kommt genau auf mich zu. Es ist groß und selbst die Mücken verharren. Da es andere Menschen hier nicht gibt, bin ich mir sicher: es muss ein Bär sein. Die Frage ist nur noch welche Sorte, Braunbär oder Schwarzbär? Die eine Sorte sollte ich verjagen, bei der anderen mich totstellen. Für beides fühle ich mich gerade nicht optimal vorbereitet.

Mein Bärenspray ist immer greifbar am Hüftgurt des Rucksacks befestigt, der aber liegt hundert Meter entfernt am Weg. Die Plastikschaufel ist zwar etwas stabiler als die Version im Sandkasten deutscher Kindergärten, aber weit davon entfernt ein Bärenschreck zu sein. Und weglaufen wäre selbst dann eine schlechte Idee, wenn sich meine Hose an ihrem angestammten Platz befinden würde.

Schlagartig wird mir klar woher die englische Redewendung „Caught with your pants down“ stammt und das sie etwas ganz anderes bedeutet als das sprichwörtliche deutsche „die Hosen herunterlassen“. Manchmal ist Sprachunterricht sehr anschaulich. Mir will nur ein einziger Vorteil an meiner Lage einfallen: Niemand kann hinterher behaupten, ich hätte mir vor Angst in die Hosen gemacht!

Erstaunlich was ein Gehirn in wenigen Sekunden alles denken kann, denke ich noch. Derweil ist das Rascheln ganz nah. Ich hocke noch, die Schaufel in der linken Hand und die Papierrolle in der rechten, der Bär kommt direkt vor mir aus einem großen Busch hervor. Keine zwei Meter trennen mich von dem Tier, das ich jetzt erst sehen kann. Ein großes Geweih ist das erste was ich wahrnehme: Ein Hirsch! Und der ist wahrscheinlich selten in seinem Leben so erleichtert angelächelt worden. Er schaut mich an und ich verstehe auch ohne Worte was er mir mitteilen möchte: “Mach vorwärts, die Mücken zerstechen gerade deinen Hintern“.