Jedes Land besitzt seine Visitenkarte, der erste Eindruck gleich nach der Ankunft mit dem es sich vorstellt. „Das wahre Leben ist ein Karneval“, so verkündet das große Plakat am Flughafen von Delhi, und besser lässt es sich nicht zusammenfassen. Die vornehme Zurückhaltung ist die Sache Indiens nicht. „Ich bin bunt, ich bin laut; voller Menschen, voller Leben und froh dass Du jetzt auch noch hier bist“ so schreit es mir entgegen.
Vor allem die Lautstärke ist es, die den Auftakt drastisch macht. Ich frage mich wie denn der Verkehr in Indien vor der Erfindung der Hupe funktioniert haben mag; eine Frage auf die es keine Antwort gibt. Alles im indischen Straßenverkehr ist verzichtbar: Sicherheitsgurte, Scheibenwischer, Fensterscheiben, Türen; selbst Motoren oder Räder. Wer aber keine Hupe besitzt kann bestenfalls stehen, niemals sich aber bewegen.
Das gilt keineswegs nur für Busse oder Autos, sondern das gesamte Gemisch aus Gefährten, welches die Straße bevölkert. Karren mit Holz–, Gummi- oder Metallrädern in jeder erdenklichen Anzahl. Von Menschen geschoben, von Ochsen gezogen, von Kamelen geschaukelt oder von Pferden geführt. Die wenigen Löcher dazwischen gefüllt mit heiligen und weniger heiligen Kühen und Menschen. Mit der Ausnahme von Hundeschlitten bewegt sich jedes jemals erfundene Transportmittel durch die Straßen, oder versucht es zumindest.
Schlagartig wird mir klar warum der Hinduismus über 30000 Gottheiten kennt und verehrt: jeder einzelne davon ist absolut unverzichtbar um die Menschen und Tiere unversehrt durch das Chaos zu geleiten. Die Götter sind in bunten Farben auf die Lastwagen gemalt und in den Autos dient der Rückspiegel vorrangig als Halter für einen weihrauchschwangeren Altar. Damit funktioniert er, der Verkehr. Dank der vielfachen göttlichen Hilfe und natürlich dank der Hupen, Hörner und Fanfaren die jedes Gefährt besitzt und ohne falsche Bescheidenheit auch betätigt. Dabei ist das indische Hupen frei von jeglichem moralischen Unterton oder Vorwurf, der in Deutschland immer mitschwingt. Während der Deutsche hupt um Recht zu behalten, hupt der Inder um vorwärts zu kommen.
Das indische Hupen dient allein dem Zweck einer Mitteilung: „Jetzt bin ich hier und gleich werde ich da sein wo Du gerade bist“. Dem Adressat dieser Nachricht bleibt nichts anderes übrig als dem nächsten Verkehrsteilnehmer mit seiner Hupe die gleiche Nachricht zu schicken. Damit wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die schließlich alle gleichzeitig ein Stück vorwärts bringt. Irgendwo am Ende der Kette muss es natürlich jemanden geben der den Platz dafür freiräumt, wahrscheinlich einer der bedauerlicherweise keine Hupe besitzt.
Vielleicht ist das aber auch viel zu kleinlich und westlich gedacht, denn zu sehen ist dieser letzte Schritt nie. Der Trick besteht darin einfach darauf zu vertrauen, dass irgendwo zwischen dem Hupen und dem göttlichen Beistand eine Lücke entstehen muss. Die gilt es dann zu nutzen, noch bevor sie entstanden ist. So bewegt sich alles vorwärts, angetrieben von einer kleinen Lücke irgendwo am Rande des Universums.